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Fokusthema Pferdewohl

Was ist pferdegerecht?

Die Pferdeszene ist ins Wanken geraten. Zu viele Beben, zu viele unschöne Bilder, zu viele Skandale. Das Tierwohl stehe nicht an erster Stelle, prangern die Kritiker des Pferdesports an. Jetzt ist es fünf Sekunden vor zwölf – Optimisten glauben, wir können das Ruder noch rumreißen, Pessimisten sagen, wir schaffen es nicht mehr. Und Sie?

Jeder einzelne unter uns hat das Wohl des Pferdes in seiner Hand.

Es sind ungemütliche Zeiten für den Pferdesport. Der Druck von außen wächst. Die Tierrechtsorganisation Peta und Tierschützer stellen den Pferdesport in Frage – prominente und weniger prominente Reiter geben ihnen durch diskussionswürdige Aktionen das nötige Futter, sorgen für Negativ-Schlagzeilen, werden in sozialen Medien zerrissen. Und nun? Die Luft wird dünner für uns alle, die wir unsere Pferde lieben und unser Bestmögliches für das Pferd geben wollen.

„Die Reiterei sollte den Warnschuss langsam mal wahrnehmen“, appelliert Wissenschaftlerin Dr. Kathrin Kienapfel und sagt: „Es ist ein multivariables Problem, in dem wir gerade sehr tief drinstecken.“ Es ist das System, das sich selbst in die Misere gebracht hat. Nur, wie kommen wir daraus? Wie kommen wir zu einem Sport, der zeigt, dass er sehr wohl pferdegerecht sein kann? Und was heißt das eigentlich: pferdegerecht? Diesem Thema wollen wir uns in widmen – wollen es von verschiedenen Seiten beleuchten, Wissen vermitteln, Ideen geben, einen Ausweg zeigen. Packen wir’s an.

Ein schwerer Befund

Dr. Kathrin Kienapfel forscht seit vielen Jahren zum Thema Pferdewohl, mit der Zügelkräftemessung fing alles an. Später konnte sie physiologisch messen, dass das Reiten mit der Nasenlinie hinter der Senkrechten Einfluss auf die Aktivität des Musculus brachiocephalicus, der entlang des Unterhalses verläuft, hat: Die Vorderbeine werden mehr nach vorne geschwungen, daraus entstehen Verspannungen. Und nun arbeitet Kienapfel am Forschungszentrum Agroscope auf dem Schweizer Nationalgestüt in Avenches an ihrem neuen Projekt „RightRiding“. Darin untersucht sie die Einflüsse der Kopf-Hals-Haltung auf unterschiedliche Parameter.

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Gemeinsam mit ihren Kolleginnen hat Kienapfel Videoaufnahmen aus den vergangenen Jahren auf Abreiteplätzen und in internationalen Dressurprüfungen analysiert. Sie haben dafür ein Programm entwickelt, das ihr Ergebnis auf möglichst objektive Beine stellen soll. Sie wollten keine Einzelfälle. 85 Prozent des jeweiligen Starterfeldes hätten sie aufgenommen und untersucht, berichtet Kienapfel, darunter seien 86 Prozent Reiter aus den Top-100 der Dressur-Weltrangliste. Kienapfel und ihr Team sind noch nicht am Ende, doch erste Ergebnisse sind: „Die Pferde werden auf dem Abreiteplatz in einer engeren Kopf-Hals-Position geritten als in der Prüfung. Die Pferde zeigen passend dazu signifikant mehr Konfliktverhalten – vor allem bezüglich des Mauls – auf dem Abreiteplatz als in der Prüfung.“ Wobei hier sicherlich der erhöhte Grad an Anspannung vor einer Prüfung eine nicht ganz unwesentliche Rolle spielt.

Ein offenes Pferdemaul, eine enge Kopf-Hals-Einstellung, wie soll man hier argumentieren, dass das pferdegerecht ist?

Kienapfel hat aber auch noch weitere Parameter untersucht: „Wir haben festgestellt, dass das Pferdeverhalten auf das Richterurteil keinerlei Einfluss hat. Ob ein Pferd also das Maul offen hat oder mehr mit dem Schweif schlägt, hatte keinen Einfluss. Es gibt aber – leider – eine Korrelation zwischen Richterurteil und Kopf-Hals-Haltung: Je enger die Pferde in der Prüfung geritten werden, umso erfolgreicher sind sie. Vorausgesetzt sie führten die Lektionen korrekt aus.“ Es gab zwar Reiter, die sehr wohl ihre Pferde in der Prüfung mit der Nasenlinie vor oder in der Senkrechten ritten, also wie in den Richtlinien gefordert, nur habe das – zumindest ergibt das die Auswertung – keine positive Auswirkung auf das Ergebnis gehabt. „Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem das richtige Reiten gar nicht mehr so bekannt ist. Das ist das, was auch Paul Stecken immer gesagt hat“, sagt Kienapfel. „Ich denke, dass das keine Absicht der Richter ist. Aber der Befund ist da und zeigt, es gibt nach wie vor Handlungsbedarf.“

Der Blick fürs Pferd

Diesen Bedarf sieht auch Martin Plewa. Er ist seit etlichen Jahren Richter, ist Ausbilder durch und durch, war Bundestrainer der Vielseitigkeitsreiter, Leiter der Westfälischen Reit- und Fahrschule und trägt den Titel „Reitmeister“. Er sagt: „Wir haben vergessen, dass das Ziel der Ausbildung Harmonie ist. Und zur Harmonie gehört, dass ein Pferd sich wohlfühlt bei dem, was es zu tun hat.“ Er hat in der Landeskommission Westfalen angeregt, eine Richterschulung zum Thema „Optisches Ausdrucksverhalten des Pferdes“ in Theorie und Praxis zu veranstalten. Denn Fakt ist: Wenn Pferde leiden, leiden sie still. Stress und Schmerz zeigen sie mit ihrer Mimik und Gestik. Sie können nicht weinen oder laut aufschreien wie wir. Er holte sich Pferdeverhaltens-Expertin Dr. Margit Zeitler-Feicht nach Westfalen. Das Seminar kam gut an – erster Erfolg: Das Thema Ausdrucksverhalten soll Pflichtmodul in der Richterausbildung werden. Plewa findet, „wir haben uns in der Vergangenheit zu sehr darauf fokussiert, zu beurteilen und zu vermitteln, was ein guter Schritt, Trab, Galopp oder eine gute Hinterhandwendung ist. Aber wir müssen lernen, das ganze Pferd wieder in den Mittelpunkt zu stellen“.

Ein gefährlicher Trend

Das zeigten auch die Weltmeisterschaften 2022 in Dänemark: In der Dressur stand die technische Ausführung der Lektionen ganz offensichtlich an erster Stelle, wie RRI-Chefredakteurin Sarah Schnieder und RRI-Redaktionsleitung Digital Sabine Gregg, die vor Ort war, kommentierten. Die Harmonie, Ausdruck von Zufriedenheit und Wohlsein, stand nicht an erster Stelle – sonst wäre hier so manche Einzelnote von harmonischen Ritten höher ausgefallen. Das ist ein gefährlicher Trend, der sich bis in die unteren Klassen durchzieht, findet Martin Plewa, weil er Auswirkungen hat: „Es kann nicht sein, dass wir schon im A- bis M-Bereich Ausbildungsmängel in Kauf nehmen, wenn nur das Pferd gut genug ist. Wenn wir heute ein 40.000 Euro-Pferd brauchen, um eine A-Dressur zu gewinnen, dann werden viele sagen: Können wir nicht, dann sind wir eben Freizeitreiter. Diese Tendenz müssen wir stoppen, sonst dünnen wir uns auch unten die Starterfelder aus.“

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Die Schulung ist ein wichtiger Schritt, der aber längst nicht reicht. Die Richter brauchen den Mut, ihr Wissen anzuwenden. In der Prüfung, wie auf dem Abreiteplatz. Noch ist der Mutige, der durchgreift, meist der Blöde. Er brauche mehr Rückendeckung, findet Plewa, und manch einer auch mehr Rückgrat. Es steht zu viel auf dem Spiel. „Wenn Laien, ob Kinder und Erwachsene, am Abreiteplatz sehen, wie im Maul rumgezogen wird, das Pferd das Maul aufreißt, dann können die doch nur mit dem Kopf schütteln“, sagt Plewa. „Ich behaupte, dass ein Laie, der nicht grundsätzlich gegen Pferdesport ist, ein sehr gutes Gefühl für Harmonie hat. Wir müssen uns bewusst sein, dass Nicht-Fachleute uns möglicherweise nachher vorhalten können: ‚Selbst ich als Laie sehe doch, dass da etwas nicht stimmt’.“

Der Richter allein wird’s nicht richten. Das Thema Pferdewohl müsse sich in der Ausbildung jedes einzelnen wiederfinden, beim Reitabzeichen, in der Pferdewirt-Ausbildung, in Richterschulungen. Plewa fordert: „Das Pferdewohl muss Schwerpunktthema in der Vermittlung werden und zwar ganz kurzfristig und massiv.“

Die große Chance

Dabei besteht gerade im Breitensport, in Reitschulen, in Reitvereinen, bei Reitern, die noch am Anfang ihres Reiterlebens stehen eine riesige Chance. „Die Basis hat einen großen Vorteil“, meint Martin Plewa. „Sie hat eine Kundschaft, bei der Turniere noch nicht im Vordergrund stehen und die noch aus emotionalen Gründen zum Pferd kommen. Ich glaube, dass gerade hier das Thema Tierwohl auf große Resonanz stößt. Wichtig ist nur, dass auch hier die Ausbilder das entsprechende Wissen haben und vermitteln.“

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Ein Phänomen dieser Zeit ist, dass sich die Lager aus Sport- und Freizeitreitern – wobei die Definition beider ein anderes Thema ist – immer mehr spalten. Auf dem hohen Ross sitzen beide, in diesem Fall aber nur sprichwörtlich. Dabei gibt es überall genug zu tun. „Deswegen würde ich nie pauschal sagen, Spitzensport ist schlecht und Freizeit ist gut“, sagt Verhaltensbiologin Dr. Vivian Gabor aus Erfahrung. „Weil ich im Freizeitbereich genauso hohe Tierschutzrelevanzen sehe, wo Menschen glauben, sie machen das Richtige.“ Ihr kommt es auf das Wie an, egal, wer was mit seinem Pferd tun möchte. Jeder, der mit dem Pferd umgehe, müsse sich fragen: Warum möchte ich das? Ist das zum Wohl des Pferdes, was ich gerade verlange? Und wie fordere ich das ein? „Dann können wir mit dem Lernverhalten des Pferdes, dem guten leistungsphysiologischen Training und mit Motivation die Pferde zu unglaublich guten Leistungen bringen. Im Spitzensport und im Freizeitbereich.“

In ihren Kursen bringt sie Menschen das Pferdeverhalten näher. Ihr Weg: Wissen aneignen und Gefühl schulen. Sie setzt auf Selbstreflektion – auch wenn gerade die so unheimlich schwer ist. „Das Ziel ist, zu spüren: die Durchlässigkeit, das feinkörperliche Kommunizieren. Viele haben das noch nicht erlebt, weil man sie aber auch nicht dorthin begleitet hat“, erzählt Gabor von ihrer Arbeit.

Sie wünscht sich, dass die Reiter öfter noch über den Tellerrand schauen. „Ich merke, dass oft zu einfach gedacht wird. Da wird eine Schublade von einer Methode aufgemacht, die funktioniert auch irgendwie und dann wird die Schublade wieder zugemacht. Aber wenn das Gefühl auf der Strecke bleibt und nur nach einer bestimmten Technik trainiert wird, kann auch das tierschutzwidrig werden“, sagt Gabor – und diese Gefahr besteht letztendlich für jede Methode. „Als Pferdemensch bleibt man nie stehen. Jeder ist in der Verantwortung sich weiter zu entwickeln und zu hinterfragen: sich und auch sein Umfeld.“

Lebensraum Pferd

Dazu gehört weit mehr als der direkte Umgang oder das Reiten. Der Lebensraum des Pferdes ist mit der wichtigste Faktor. Die Pferdehaltung ist das Herzstück von Dr. Margit Zeitler-Feicht. Seit Jahrzehnten ist sie in Sachen Pferdewohl unterwegs in Pferdebetrieben. Sie hat Bücher geschrieben, darunter das „Handbuch Pferdeverhalten“, hat an der Universität gelehrt und an den Leitlinien für Pferdehaltung und Pferdesport mitgeschrieben. Nun steht auch ihr jüngstes Projekt auf den Beinen: Das BestTUPferd, einem Beratungstool für Pferdehaltung. Wie sieht es aus auf Deutschlands Betrieben? Auf die Frage hört man Margit Zeitler-Feicht seufzen. „Wollen wir’s wirklich schreiben?“ Sie musste lernen, wie lang Veränderungen dauern. Zehn Jahre habe es beispielsweise gebraucht, bis die dauerhafte Anbindehaltung in jedem Bundesland Deutschlands verboten war – daran erinnert sie sich genau. Und der Stand heute? „Die Leitlinien werden noch von den allerwenigsten Betrieben erfüllt“, sagt sie. „Leider. Es sprechen alle von Tierwohl. Es wollen alle mehr Tierwohl. Aber die wenigsten wissen, was darunter zu verstehen ist. Ich bin noch nicht glücklich.“

Grundlagenwissen fehlt

Es habe sich schon ein bisschen gebessert. Zum Beispiel, dass Pferde freie Bewegung brauchen und dass damit nicht kontrollierte Bewegung gemeint ist. „Ich glaube, das sickert langsam durch, aber noch nicht überall.“ Was fehle, ist das Grundlagenwissen über das Lebewesen Pferd. „Viele Dinge werden völlig unreflektiert gemacht, einfach, weil es gerade in ist“, sagt Zeitler-Feicht. Wie meint sie, könne Pferdewohl mehr gelebt werden? „Wir brauchen Leitbilder“, antwortet sie. „In der Haltung, im Umgang, in der Ausbildung. Die Richtigen müssen Leitbilder werden. Aber die sind meistens ruhig und zurückhaltend.“ Nicht ganz. Immerhin haben wir ja einige dieser Leitfiguren für diesen Artikel gesprochen. Einer ist Martin Plewa, der sagt: „Wir müssen das angehen, sonst sind wir unglaubwürdig, sonst sind wir nicht mehr die Fachleute.“ Und zwar jetzt. Der Pferde wegen.

Dieser Artikel ist erstmals erschienen in der Reiter Revue-Ausgabe 10/2022.