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Turniere in der Krise: Warum immer weniger Reiter starten

„Ich reite Turnier“ – den Satz sagen immer weniger Menschen. Wegen der Pandemie, diese Erklärung liegt auf der Hand. Doch das Problem ist nicht nur Corona. Das Problem liegt im System. Eine Suche nach Ursachen, Veränderungen und Lösungen. Jetzt ist die Zeit dafür.

Immer weniger Menschen starten auf dem Turnier. Rund 43 Prozent weniger Reiter haben 2021 eine sogenannte Schnupperlizenz beantragt. Sie dient dem Einstieg in den Sport.

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Im Vergleich zu 2019 forderten 2021 43 Prozent weniger Reiter eine sogenannte Schnupperlizenz für den Turnierstart bis zur Klasse E an. „Das ist dramatisch“, beurteilt Lucca Landfried aus der Abteilung Turniersport der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) diesen Rückgang. Die Zahl der Veranstaltungen ist von 2019 im Vergleich zu 2021 um etwa ein Drittel gesunken: von rund 3.000 Turnieren auf circa 2.000 Events. Der Turniersport steckt fraglos in der Krise.

Doch warum reiten weniger Menschen Turnier? Warum richten weniger Vereine Turniere aus? Und lässt sich der Trend stoppen? Wir haben mit Veranstaltern, Verbänden und Reitern gesprochen. Ein Blick auf die Turnierlandschaft in Deutschland macht eines klar: Die Schere zwischen sogenannten Vielveranstaltern und kleinen ländlichen Vereinen geht weiter auseinander. Die einen machen zig Veranstaltungen im Jahr, richten sich gezielt an Profis, aber auch an Reiter, die gewillt sind für ein Late-Entry, also ein Turnier unter der Woche, mehr Geld zu bezahlen. Diese Turniere haben eine professionelle Infrastruktur. Die anderen richten wenige Turniere aus, mit mehr oder weniger Erfolg. Doch dazu später mehr.

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Die aktuelle Situation

Die Reitvereine stehen häufig vor einem großen Problem: „Sie haben es nicht leicht, Menschen zu finden, die sich im Ehrenamt engagieren wollen. Wir haben in der Gesellschaft einen Wandel: weg vom Wir, hin zum Ich. Deshalb funktioniert das Solidaritätsprinzip aus dem unsere Turnierlandschaft über Jahrzehnte gewachsen ist, nur noch bedingt“, meint Daniel Stegemann, der im Pferdesportverband Westfalen im Vorstand den Sport vertritt. Wenn niemand an der Einlasstafel stehen, Kuchen backen oder Protokoll schreiben möchte, kommt ein Verein in der Turnierorganisation an seine Grenzen, um nur wenige Punkte auf der langen Liste der Tätigkeiten der Ehrenamtlichen zu nennen.

Gleichzeitig ist die Frustration vieler Reiter momentan hoch: Die Spritpreise machen die Fahrt zum Turnier eigentlich schon zum Luxusevent, weggefallene Preisgelder, Coronaabgaben, die jeder Veranstalter nach persönlichem Gutdünken festlegen kann, sowie der Kampf um die Startplätze bei NeOnMax tun ihr Übriges. Hinzu kommt ein Wandel in der Gesellschaft: Selbstoptimierung statt Wettkampf. „Vielen ist es wichtiger, innerhalb eines Jahres einen persönlichen Fortschritt zu erzielen, als sich mit anderen zu messen“, stellt auch Lucca Landfried fest und sagt: „Wenn die Menschen die Lust am Wettkampf verlieren, haben wir ein Problem.“ Friedrich Otto-Erley, Leiter der Abteilung Turniersport der FN, wird noch deutlicher: „Turniersport ist die Stütze des Pferdesports. Er muss zukunftssicher sein.“ Daher ist das Bestreben der FN hoch, den Turniersport zu reformieren und Veranstaltern Mut zu machen. Doch es ist gar nicht so einfach.

Überall Frustfaktoren

„Es gibt aktuell Frustfaktoren auf allen Seiten“, sagt Daniel Stegemann. Die Reiter erwarten auf dem Turnier perfekte Böden, Freundlichkeit überall, gute Verpflegung, faire Richter, gute Kommentierung – verständlicherweise. Denn Turniersport ist für Amateure Freizeit und die soll Spaß machen. Gleichzeitig ist es für einen Verein nicht einfach, das Optimum möglich zu machen, denn manche haben keinen Top-Springplatz, mehrere Plätze zum Abreiten oder Parkplätze, die auch bei Regen nicht zur Matschfläche werden. Das können sie nicht herbeizaubern, aber bei ihrer Turnierplanung bedenken: „Jeder Verein muss sich überlegen, für wen er das Turnier machen will“, betont Daniel Stegemann und stellt auch klar, dass es sinnvoller sein kann, kleinere Veranstaltungen anzustreben, bei denen sich die Reiter wohl fühlen. „Es ist sinnvoller, ein Jugendturnier und separat ein Turnier für die Profis der Region zu machen, als alle gleichzeitig bedienen zu wollen“, sagt er. Zugleich lobt er, wie viele Turniere es 2021 gab – dank des Engagements vieler Ehrenamtlicher. Gerade in diesen Zeiten sei dies nicht selbstverständlich.

Der Einstieg in den Turniersport ist zu schwer

Der Pferdesportverband Westfalen bietet, wie andere Landesverbände auch, Beratungen für Veranstalter an. Diese könnten aber noch stärker angenommen werden, betont auch Hendrik Langeneke, Geschäftsführer des Pferdesportverbands Hessen. „Unerfahrenen Vereinen muss die Scheu genommen werden, ein Breitensport-Turnier auszurichten. Solche Turniere dürfen nicht aussterben“, sagt Langeneke deutlich. Deshalb fördert der Pferdesportverband Hessen beispielsweise auch manche Turnierprüfungen, vor allem Einsteigerprüfungen, mit einem finanziellen Zuschuss. Hendrik Langeneke sieht es als eine der Hauptaufgaben des Verbandes an, junge Menschen in den ländlichen Sport zu bringen. Denn gerade da sinken die Zahlen. Aus vielfältigen Gründen. Kinder werden heute nicht mehr so selbstverständlich mit Pferden groß wie noch vor Jahrzehnten. Für nichtreitende Eltern ist der Sport zum einen gar nicht so leicht zu verstehen und zum anderen vor allem immens aufwendig – zeitlich und finanziell. Ein eigenes Pony ist teurer als eine Fechtausrüstung.

Kosten dämpfen die Freude am Sport

Doch auch erfahrene Turnierreiter überlegen sich aktuell den Start. Ein Grund dafür sind sicherlich die gestiegenen Kosten. Sylvia Sánchez, Journalistin und begeisterte Turnierreiterin auf M-Niveau, berichtete von ihren Erfahrungen 2021: „Ein Turnierstart ist auch durch die Corona-Abgabe teuer geworden. 35 Euro Nenngeld für einen Startplatz empfinde ich als viel und man bekommt gar nichts mehr zurück. Es gab noch nie horrende Preisgelder, aber mal 50 Euro für die Platzierung taten gut. Davon konnte man seine Currywurst bezahlen und hat den Rest in die Tankfüllung investiert. Nun geht es nur noch um Ruhm und Ehre.“ Denn coronabedingt wurden vielerorts die Preisgelder gestrichen. Die Veranstalter, für die es fraglos schwieriger geworden ist, Sponsoren zu gewinnen, sollten so entlastet werden.

Und die Reiter? „Menschen mit einem normalen Einkommen zahlen für die Unterhaltung des Pferdes, für die Reitstunden, für den Tierarzt, für den Hufschmied, da muss mancher über den Turnierstart genau nachdenken“, weiß Langeneke. Umso wichtiger ist es ihm, den Einstieg in den Turniersport zu erleichtern. Dass die Kosten für den Pferdesport im Amateurbereich nicht durch Preisgelder zu decken sind, ist jedem Reiter klar. Vielmehr geht es um Anerkennung. Und auch darum, dass es Preisgelder in den vergangenen Jahrzehnten immer gegeben hat. „Da ist die Szene bei uns verwöhnt“, sagt Friedrich Otto-Erley und weiter: „Es wird seit jeher schon in Kinderprüfungen Geld ausgeschüttet. Das gibt es in keinem anderen Sport und das macht auch keinen Sinn. Wenn Eltern sagen, wir brauchen die zehn Euro für den Hufkratzer, geht das an der Realität vorbei.“
Lucca Landfried weiß, dass manchen Reitern ein Preisgeld wichtig ist. Sie sieht es anders: „Wenn der Reitplatz gut ist und die Richterkommentierung wertschätzend, kann ich privat darauf verzichten.“

Fehlende Wertschätzung

Wertschätzung ist ein gutes Stichwort. In unserer Gesellschaft ist sie in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden. Es geht um das gute Gefühl, egal ob bei der Arbeit oder der Ausübung eines Hobbys, im Training als auch auf dem Turnier. Dies ist ein weiterer Faktor für die Turniermüdigkeit mancher Reiter: „Die Kommentierung eines Rittes sollte immer wertschätzend und konstruktiv erfolgen“, betont Lucca Landfried. Leider ist das nicht immer gegeben. Da müssen manche Richter an ihren Formulierungen arbeiten. Sie sollten motivieren statt abzustrafen.
Andererseits müssen Richter deutlich machen, ob der Reiter sich auf dem richtigen Weg der Ausbildung befindet. Denn das ist Turnierreiten: Eine Überprüfung des aktuellen Stands der Ausbildung und bestenfalls eine tolle Wertschätzung der täglichen Arbeit. Das ist vor allem Amateuren wichtig. Für Profi-Reiter ist die Infrastruktur auf dem Turnier entscheidend, die faire Bewertung und schlicht und einfach der Erfolg.

Es geht nun also darum, neue Turnierreiter zu motivieren, neue Veranstalter zu gewinnen und andererseits auch bestehende Vielveranstalter nicht davon abzuhalten, ihr Angebot auszubauen. „Der Markt wird es regulieren“, ist sich Hendrik Langeneke sicher. Solange Reiter dazu bereit sind, auf entsprechenden Veranstaltungen mehr zu bezahlen, haben jene auch ihre Berechtigung. Eine Liberalisierung der Nenngebühren ist die logische Folge. Wo mehr investiert wird, muss der Sportler mehr zahlen. „Die vorhandene Schere müssen wir akzeptieren und überlegen, wie der Turniersport der Zukunft aussehen soll. Wir gestalten ihn jetzt. Das geht aber nicht von oben nach unten. Da braucht es den Impuls aus der Basis“, betont Stegemann – und erwartet eine Zusammenarbeit von Reitern, Richtern, Vereinen und Verbänden. Zugleich braucht es Mut, neue Wege zu gehen, neue Prüfungsformen auszuprobieren.

Kompliziertes Regelwerk

„‚Das haben wir immer schon so gemacht‘, ist gerade jetzt ein denkbar schlechtes Argument“, meint Otto-Erley. Um in der heutigen Zeit gute Turniere zu machen, müsse man offen für neue Konzepte sein. „Wir beraten gern“, sagt Lucca Landfried und verweist darauf, dass die Leistungsprüfungsordnung viel mehr Möglichkeiten gebe, als genutzt werden. Weil sie zu kompliziert ist? Vielleicht. Das Regelwerk ist über Jahrzehnte gewachsen, ist zu Recht ausdifferenziert. Wäre es verständlicher, wäre es sicherlich aber auch für Erstveranstalter eine große Hürde aus dem Weg geschafft. Wie gesagt, es gibt viele Punkte, um die Kehrtwende zu schaffen. Dafür braucht es nur die Initiative von allen, die sich für den Turniersport begeistern. Egal auf welchem Niveau, egal ob beruflich oder im Ehrenamt. Denn irgendwann ist jetzt.