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Im Interview: Kerstin Gerhardt

„Das größte Chaos sehe ich bei der Ausbildung der Jungpferde“​

Kerstin Gerhardt ist Bereiterin FN, ehemalige Berufsschullehrerin für Pferdewirte und Dressurausbilderin bis Grand Prix. In den 90er Jahren zeigte sie Paul Schockemöhle wegen Barrens an, äußerte sich öffentlich dazu im TV – so wie auch in der RTL-Dokumentation über Totilas und zuletzt beim NDR über den Fall Cesar Parra.​

Ausbilderin Kerstin Gerhardt

Es ist ein Montagabend Anfang März, der Skandal um die tierschutzwidrigen Handlungen des Kolumbianers Cesar Parra sind nach wie vor in aller Munde und Köpfe. Er umtreibt auch Kerstin Gerhardt, Dressurausbilderin aus dem niedersächsischen Bergen. Sie wurde kurze Zeit vorher auch vom NDR zum Fall Parra interviewt. Es war nicht ihr erster TV-Auftritt, in der 90ern sprach sie mit Roger Willemsen über den Barr-Fall Schockemöhle und sie war Teil der Doku über Totilas bei RTL.

„Reiten Sie?“, fragt Kerstin Gerhardt am Telefon und bietet kurz darauf das „Du“ an, denn „unter Reitern duzt man sich“. Das Interview beginnt.

Kerstin, danke, dass du dir Zeit für dieses Interview nimmst.

Es ist eine wichtige Sache für die Reiterei. Wir müssen aus dem Schlamassel wieder raus.

Kommen wir aus dem Schlamassel raus?

Wenn wir auf die Jugend setzen, ja. Aber nicht mehr mit denen, die oben das Zepter in der Hand haben. Ich bin eigentlich ein positiv eingestellter Mensch, aber in dieser Hinsicht bin ich rundum pessimistisch, mit dieser Riege schaffen wir das nicht mehr. Wir müssen auf die Kinder, auf die Jugend bauen. An die müssen wir ran.

Woran liegt das deiner Ansicht nach?

Die Antwort wird niemandem gefallen: Es ist nun mal so, dass wir über Ehre, Anstand, Moral, Demut und Verantwortungsgefühl – also alle Merkmale, die ein Reiter haben sollte – nicht mehr reden können. Wir erreichen die Reiter damit nicht mehr. Wir haben die wunderbaren Richtlinien, wir haben die wunderbare Reitlehre. Wir haben das Kulturgut Reiten. Wir haben alle Instrumentarien da. Aber es sind leider nur Regeln, Vorschläge, eben Richtlinien. Was wir aber für solche Menschen brauchen, die ihre Pferde misshandeln, sind knallharte Gesetze. Wir können sie nicht an der Ehre, sondern nur am Geldbeutel packen.

Was heißt das konkret?

Das heißt, ganz hohe Strafen aufzulegen bei Tierquälerei. Und wenn es nach mir als Ausbilderin geht, dann auch Geldstrafen für vorsätzliches LDR, für vorsätzliches und andauerndes Rückwärtseinwirken und auch dafür, wenn man dem Pferd vorsätzlich keine Zeit gibt.

Für solche Vorschläge werde ich ausgelacht. Denn die Leute, die das praktizieren, wollen gar keinen anderen Weg einschlagen. Wenn wir also mit Vorschlägen nicht durchkommen, mit grünen Tischen nicht durchkommen und auch mit „wir müssen zusammenhalten“ nicht durchkommen, hilft nur noch der Gesetzgeber. Das könnte dann bedeuten, dass die Richtlinien keine Richtlinien mehr sind, sondern Vorgaben. Und wer die nicht erfüllt, braucht sich gar nicht mehr aufs Pferd zu setzen. Das würde auch bedeuten, dass Tierquälerei kein Vergehen mehr ist, sondern ein Verbrechen. Eine Vergewaltigung ist doch auch kein Vergehen, sondern eine Straftat. Und Tierquälerei ist für mich eine Straftat. Aber etwas kann nur zu einer Straftat werden, wenn die Gesetze dazu passen.

Wie lang bist du schon im Reitsport?

Ich bin jetzt 61, habe mit elf Jahren mit dem Reiten angefangen. Ich habe eine Lehre gemacht bei dem wunderbaren Werner Schönwald – er war der letzte Otto Lörke-Schüler und ich war zehn Jahre bei ihm. Wir haben noch gelernt, dass die Hand ein Führungsinstrument ist und kein Einwirkungsinstrument. Wir haben gelernt, dass es ohne Sitz keine Einwirkung gibt. Für diese richtig alte Schule bin ich jeden Tag dankbar. Was es aber in der heutigen Zeit nicht einfacher macht. Du wirst als Reitlehrer besser bezahlt, wenn die Pferde den Kopf unten haben. Nicht aber, wenn du sagst „vorlassen“, „reite einhändig – was du einhändig nicht hinbekommst, ist eine Lüge“. Solche Sätze sind im Reitunterricht unpopulär geworden.

Fehlt die alte Schule?

Definitiv!

War früher alles besser?

Nein. Aber wenn man früher als Reitlehrer die Reithalle betreten und sich geräuspert hat, haben sich alle – wirklich alle – aufrechter hingesetzt, die Hände schöner hingestellt und zugehört. Heute könnte man froh sein, wenn einer fragt: „Oh, sind Sie erkältet?“

Wir als Reitlehrer sind ja heute keine Ausbilder mehr, vor denen man innerlich wie äußerlich mal stramm steht, sich aufrichtet, sondern wir sind zum Dienstleister verkommen.

Wann ist der Reitsport deiner Meinung nach falsch abgebogen?

Als die Freizeitreiterei aufkam und sich plötzlich jeder ein Pferd leisten konnte.

„Das Pferd für alle“ als Problem – warum?

Man kann sogar sagen, das Discounter-Pferd. Das Pferd, das man damals für 120 Mark beim Bauern kaufen konnte, weil er damals sehr schnell von Milchvieh auf das vermeintlich bequemere Pferd umgestellt hat. Die Bauern hatten keine Ahnung, die haben die Pferde auf die Kuhweide gestellt. Und plötzlich kam eine Masse an Pferdebesitzern auf uns Reitlehrer zu. Die konnten wir gar nicht bedienen. Dann hat die FN eines getan, was im Prinzip richtig war: Sie brauchte Ausbilder für diese neue Schwemme an Pferden und Reitenden. Und ich sage extra „Reitenden“ und nicht Reiter, denn das ist für mich ein riesiger Unterschied. Die FN hat den Trainer C erfunden, das war das, was früher der Reitwart war. Die Reitwarte mussten warten, bis sie reiten durften, und haben den Reitlehrern die Pferde fertig gemacht. Wir haben diese Trainerscheine viel zu „billig“ vertickt.

Aber das größte Chaos sehe ich bei der Ausbildung der Remonten. Jungpferde brauchen alte erfahrene Ausbilder, die schon hunderte Remonten hatten, die jedes Wehwehchen erkennen können, die sehen, wie das Pferd heute drauf ist, die sich fragen: Was kann ich heute verlangen? Oder gehen wir nur eine Runde im Schritt spazieren? Und dabei wird das Pferd geführt und nicht draufgesessen, denn sonst hängt der Rücken durch. Das heißt: der Halbblinde hat dem total Blinden Farben erklärt. Und da kann nichts besser werden. Zu viel Masse, zu wenig Klasse.

Meist wird in solchen Momenten die FN in Verantwortung gezogen.

Was will die FN denn machen? Plötzlich 1.500 Leute einstellen, die in jedem Reitstall mal gucken gehen, ob alles in Ordnung ist? Das lassen sich die Leute auch gar nicht gefallen, da heißt es: mein Stall, meine Regeln. Das ist übrigens das Schlimmste, was man machen kann, denn es gibt nur „mein Stall, DIE Regeln“. Jeder denkt, er sei der König auf der eigenen Scholle. Es nützt mir ja nichts, wenn ich mein Pferd 24/7 auf der Weide halte und dann in eine staubige Reithalle gehe mit einem Boden, der die Hufe wegschmirgelt. Ohne Gesetze und Strafen bekommen wir das alles nicht mehr in den Griff. Der Egoismus der Menschen ist so groß geworden.

Und da sind wir noch nicht bei den großen Skandalen.

Da fehlen mir die Worte. Wenn man einen Meter reiten kann, ist man doch per se ein Vorbild und lässt so etwas doch einfach sein. Du musst ein Vorbild sein für die Jugend, das ist doch der Auftrag als Reiter! Aber auch da wurde das Ego zu groß und das Geld zu viel. Auch da gibt es keine Gesetze. Und dieser Cesar Parra verdient vermutlich jetzt schon wieder Geld. Es wird genug Kundschaft für ihn geben. Ob die Seele des Pferdes dabei gebrochen wird, interessiert die Leute offensichtlich nicht.

Wie bist du auf die Bilder von Cesar Parra gestoßen und was hat das mit dir gemacht?

Ich habe die Bilder von einer Kollegin zugeschickt bekommen und das erste was ich getan habe – obwohl ich ein hartgesottener alter Knochen bin – war: Ich habe geweint. Ich dachte, wo sind wir hingekommen?

Was glaubst du, was die Menschen zu solchen Methoden bewegt?

Das sind für mich Individuen, die sich in ihrer Machtausübung gottgleich fühlen. Jeder Reiter kennt das, wenn die Wut in einem hochkocht. Aber Wut und Angst gehören nicht in die Reiterei. Jeder Reiter kennt diese Gefühle und muss lernen, damit umzugehen. Ich kann ja auch nicht jeden Tag eine Frau vergewaltigen und sagen, „ich liebe sie“. Letztendlich ist es eine Frage der inneren Haltung und des Charakters und deswegen ist es auch leider unmöglich, mit diesen Menschen zu sprechen. Die haben eine andere Denke, eine andere Gefühlsebene. Die mögen dieses Gefühl der Machtausübung, die mögen es, ein Lebewesen zu demütigen, zu brechen. Und die Gewalt, die sie über das Lebewesen haben können, auch auszuleben. Das macht auch süchtig. Was aber süchtig machen sollte, ist die Harmonie mit dem Pferd. Es gibt tatsächlich diese Verbindung Hirn-Mensch-Hirn-Pferd: Wer das gefühlt hat, weiß, was reiten ist. Der muss nur noch denken. Dann ist alles leicht, alles fließt und man will gar nicht aufhören. Als Reiter ist es deine Aufgabe, dein Pferd gut darzustellen und nicht dich. Mein Reitlehrer hat mich dazu erzogen, die zehn Jahre lang. Und das wünsche ich mir wieder.

Hältst du Social Media in diesem Fall für Fluch oder für Segen?

Beides natürlich. Man kann jedes Ding gut oder böse verwenden. Ich habe seit zehn Jahren keinen starken Galopp mehr auf der Diagonalen gesehen, nur noch schnellen Galopp ohne Rahmenerweiterung. Und wenn die Herrschaften dann ihr Pferd aufnehmen, ruckeln sie viermal mit der Kandare anstatt über den Sitz das Pferd aufzunehmen. Das sieht die Jugend und macht das auch. Als Reitlehrer muss man dann eigentlich wieder von vorne anfangen. Wir brauchen gute Bilder da draußen. Die Reiterwelt guckt nur noch Porno, ich hätte gerne Liebesfilme!