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Neuroathletik: der Tipp für gutes Reiten

Was ist Neuroathletik?

Was haben Fußball-Weltmeister Mario Götze, Leichtathletin Gina Lückenkemper und Springreiterin Finja Bormann gemeinsam? Sie trainieren Neuroathletik. Was das ist, wie es geht und wie es das Reiten verbessert, haben wir bei einem Trainingstermin mit Finja Bormann erlebt – und auch, warum es für alle Reitsportler wertvoll ist.

Blicksprünge sind ein Training fürs Gehirn. Das wirkt sich auf den gesamten Körper aus.

Jeder Reiter kennt dieses Problem: Er weiß genau, wo der Fehler liegt, aber kann ihn nicht abstellen. Er will seine Absätze tief halten, aber immer wieder verliert der Reiter die Kontrolle über seine Füße. Oder er weiß eigentlich ganz genau, in welchem Moment er die Wechselhilfe geben soll, aber verpasst ihn dennoch immer wieder. Oder er klemmt mit dem Schenkel, weil es ihm einfach nicht gelingen will, loszulassen und sich auszubalancieren. Die Hände wandern immer wieder nach oben, der Kopf wird immer wieder schief gehalten, die Schultern hochgezogen. Die Liste lässt sich endlos fortführen.

Die gute Nachricht: Das ist ein Dilemma, in dem fast jeder Sportler irgendwann steckt, selbst auf Weltklasse-Niveau kommen die allermeisten an einen Punkt, an dem sie sich nicht mehr weiterentwickeln oder ihre Leistung nicht konstant abrufen können. Insbesondere nach Verletzungspausen kommt ein Knick, man kann nicht mehr an frühere Leistungen anknüpfen, weiß aber auch nicht genau, warum. Aber man kann daran arbeiten – und zwar sehr effizient.

Marc Nölke leitet Springreiterin Finja Bormann an, dem Stift mit den Augen zu folgen, ohne den Kopf zu bewegen.

Die Erklärung für die oben beschriebene sportliche Sackgasse gibt Marc Nölke. Der frühere Skispringer verweist dabei auf die Verknüpfung zwischen Nervensystem, allem voran natürlich dem Gehirn, und dem Bewegungsapparat. Genau hier setzt das Neuro-Rider-Training an. Es klingt fast ein bisschen nach Magie: Besser reiten, ohne zu reiten? Das Reiten bleibt natürlich nicht außen vor, es dient bei diesem Training allerdings dem Test und Re-Test. Und es ist tatsächlich so, dass Übungen am Boden verbessern, was der Reiter im Sattel fühlt und tut. Der Kern der Neuroathletik ist schnell zusammengefasst: Das Nervensystem steuert jede Bewegung, die der Körper macht. Klingt logisch und folgt einem einfachen Prinzip. Das Gehirn erhält Informationen. Diese werden verarbeitet und interpretiert. Anschließend sendet es Befehle aus, zum Beispiel für bestimmte Bewegungen oder die Ausschüttung der benötigten Hormone.

Für den Sportler – auch den Reiter – und das Training sind vor allem die Infos im Zusammenhang mit Bewegung wichtig und somit für das Neuroathletiktraining relevant: das Sehen, also das visuelle System, das Gleichgewicht, also das vestibuläre System, das das Gehirn darüber informiert, in welcher Position sich der Körper im Raum befindet. Sowie das propriozeptive System. Letzteres lässt sich umgangssprachlich am besten als Tastsinn übersetzen, birgt aber viel mehr, denn über das Fühlen von Temperatur oder Widerstand hinaus, wirken die Propriorezeptoren außerdem noch bei der Koordination der Muskelarbeit mit und nehmen zum Beispiel auch blitzschnelle, reflexartige Bewegungen wahr. Diese sind gerade für Reiter sehr wichtig, denn: „Reiten ist zu 90 Prozent für den Reiter reflektorisch. Das bedeutet, der Reiter steuert nicht bewusst, wie er sitzt und mitschwingt. Die Muskulatur stabilisiert reflexhaft. Diese reflektorische Aktivierung passiert übrigens für jede Seite des Körpers getrennt“, erklärt Marc Nölke.

Die Funktion der Propriorezeptoren: Man läuft in einem Raum voller Menschen und stößt mit dem Fuß gegen eine Stufe, die man nicht sehen konnte. Der Fuß zuckt hoch und der Mensch stolpert vielleicht, aber fällt nicht. Hier haben die Propriorezeptoren sozusagen auf kurzem Dienstweg in Absprache mit dem Rückenmark die Muskulatur dazu aufgefordert, schnell einen Ausfallschritt zu machen, um den Sturz zu verhindern – ohne das Gehirn zu fragen, weil es schnell gehen musste. Ähnlich schnell reagieren Reiter auf das, was unter dem Sattel passiert.

Diese drei Systeme – visuelles, vestibuläres und propriozeptives – arbeiten sehr eng miteinander zusammen. Und davon, wie gut sie zusammenarbeiten und dem Gehirn Informationen liefern, hängt ganz grundsätzlich ab, wie sicher sich ein Körper im Raum und in der Bewegung fühlt. Eine gute Funktion dieser drei Systeme ist Voraussetzung für die Leistungsfähigkeit eines Körpers. Bekommt das Gehirn präzise Informationen aus den Systemen und bewertet die Situation somit als „sicher“, dann ist es bereit, mehr Raumgriff oder Reichweite, mehr Kraft oder Energie zu geben, ohne den Muskeltonus überdurchschnittlich zu erhöhen. Dadurch wird die Bewegung vor allem eines: präziser und effizienter. Umgekehrt: Nimmt das Gehirn „Gefahr“ wahr, weil Informationen ungenau sind, zum Beispiel nach Verletzung, dauerhaft einseitigem Gebrauch oder Traumata, passiert genau das Gegenteil: Die Reichweite ist kleiner, es ist weniger Energie in der Bewegung, gleichzeitig aber steigt der Muskeltonus über das gesunde Maß hinaus, also die Muskulatur verkrampft sich.

Je besser und klarer also der Input durch die Nervensysteme an das Gehirn ist, desto (selbst-)sicherer fühlt sich das Gehirn und umso leistungsbereiter wird der Körper. Übrigens überträgt sich das auch sofort in mentale Kraft. Denn fühlt sich der Körper gut, sicher, kraftvoll, in Balance, also stabil an, wachsen auch Zuversicht und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.

Sie wollen Neuroathletik selbst einmal testen? Dann melden Sie sich für unseren Online-Workshop an. An drei Abenden erklärt Marc Nölke Ihnen die Grundlagen der Neuroathletik und zeigt Ihnen Übungen, die Sie zum besseren Reiter machen. Wir schicken Ihnen einen Link und Sie klicken sich ganz einfach am 1., 8. und 15. Dezember, jeweils um 19.30 Uhr, in den Workshop. Reiter Revue-Abonnenten zahlen 39 Euro, Nicht-Abonnenten 89 Euro. Direkt hier anmelden und mehr erfahren!

Daraus resultiert aber auch, dass das reine Training des Körpers zwangsläufig an seine Grenzen stößt, denn hat das Nervensystem zum Beispiel einen Bewegungsablauf falsch gelernt oder ist durch ein Trauma, wie eine Gehirnerschütterung, die Verbindung zwischen den Rezeptoren, dem Gehirn und Körper, in irgendeiner Weise beeinträchtigt, reicht es nicht immer, den Körper weiter wie gewohnt zu trainieren. Durch ein normales Training kann die Aktivierungsschwelle unteraktiver Neuronen/Teilbereiche im Gehirn oft nicht erreicht werden. Dann muss das Training genau diese im Gehirn und deren Umgebung gezielter aktivieren. Erst dann können Bewegungsabläufe oder Gleichgewichtsdefizite dauerhaft ausgemerzt werden und die Leistung des Sportlers wird besser. Ansonsten passieren dieselben Fehler immer und immer wieder.

Marc Nölke demonstriert, wie die Halswirbelsäule mobilisiert wird.

Es geht in der Neuroathletik darum, Schwachstellen im Nervensystem zu erkennen und sie wieder zu stärken. Dazu gibt es auf der einen Seite fast unzählige Möglichkeiten, aber die folgen immer einem Anwendungsprinzip: Eine Bewegung testen, eine Neuroathletikübung – einen so genannten Drill – praktizieren, und wieder die Eingangsbewegung testen, der so genannte Re-Test.

„Ich nutze meine Kenntnisse aus der Neuroanatomie und habe ein System an Übungen und eine Verfahrensweise entwickelt, um Reitern besseres Reiten zu ermöglichen“, fasst Nölke zusammen. Zum Thema Pferd ist Nölke über seine Schwester, seine Mutter und seinen Onkel gekommen, die allesamt reiten. „So war ich als Kind oft im Stall. Ich habe auch eine Zeit lang voltigiert, zusätzlich zum Skisprungtraining. Dann habe ich Christoph Steinkamp kennengelernt, der Bewegungstrainer nach Eckart Meyners ist.“ Mit den Schülern des Pferdewirtschaftsmeisters aus dem Rheinland hat Nölke gearbeitet. „Da waren alle sehr verblüfft, wie schnell ich positive Veränderungen erreichen konnte“, erzählt Nölke. Es folgte eine Einladung nach Warendorf zu einem Workshop mit allen Bewegungstrainern und Eckart Meyners selbst. „Dort wurde der Wunsch nach Seminaren und einer Fortbildung geäußert und so war die Idee zum Neuro-Rider geboren.“ Ein Wissen, das zunehmend im Reitsport in Anspruch genommen wird.