Interview über pferdegerechtes Training
Dr. Vivian Gabor: „Die mentale Fitness ist noch zu wenig beachtet“
Frau Dr. Gabor, wie wichtig ist der mentale Aspekt beim Training des Pferdes?
Die mentale Fitness gehört automatisch in eine Trainingsplanung. Meiner Meinung wird sie allerdings noch zu wenig beachtet. Losgelassenheit und Durchlässigkeit sind immer physisch und psychisch zu sehen. Es ist ein Wechselspiel zwischen Körper und Geist.
Was heißt das konkret?
Ein Seitwärts beispielsweise funktioniert nur durchlässig, wenn das Pferd bereit ist, diesen Druck mental durchzulassen. Das hat sofort einen Lerneffekt, entweder eine Sensibilisierung oder eine Gewöhnung. Es sind also immer kognitive Leistungen mit integriert, vor allem, weil wir nicht verbal erklären können, was das Pferd machen soll. Es geht immer um Druck und dem Nachlassen von Druck.
Hat das Pferd dabei mentalen Stress oder kann es den Druck in etwas Positives durchlassen?
Die mentale Fitness hat mindestens einen so hohen Stellenwert wie beim Menschen: Wenn das Pferd den Druck oder auch die Berührung als negativ empfindet, kann es körperlich gar nicht die Muskeln aufbauen, die wir ansprechen wollen. Dann hält das Pferd vielleicht irgendwo dagegen. Es kann also die Losgelassenheit oder Versammlung gar nicht reell aufbauen, wenn es mental dazu nicht bereit ist.
Wie sieht die Trainingsplanung für die Psyche aus?
Wir können wie in der Leistungsphysiologie hervorragend mit den Grenzen arbeiten. Das heißt: Wir haben wie im physiologischen Training einen grünen Bereich, einen Komfortbereich. Da ist unsere Physis in einem normalen Zustand, Herzschlag und Atmung sind normal. Im physiologischen Training gehen wir leicht über die Grenze. Wir trainieren kurz über der Belastungsgrenze, kehren dann sofort wieder in den Komfortbereich zurück und gehen dann in eine Rekonvaleszenz, also in eine Anpassung. Der Muskel, der Stoffwechsel, der ganze Körper passt sich durch Training an und wird leistungsbereiter. Genauso können wir das mit der psychischen Trainingsplanung sehen. Es ist also wichtig, früh zu erkennen, wann man im orangenen Bereich ist, um dann zu sagen, wir gucken mal zwei Sekunden in den roten Bereich und gehen danach in den grünen. Dann wird im Laufe des Trainings der orangene Bereich zum grünen werden und der rote zum orangenen. Das ist wertvolles und faires Training.
Wie oft sollte man trainieren, ohne das Pferd mental zu überfordern?
Mein Rat ist, alle zwei Tage mentale und physiologische Reize zu setzen. 48 Stunden Pause sind ein gutes Maß, das hat auch die Wissenschaft bei Lernreizen bei Pferden herausgefunden: Weder das tägliche noch das ganz seltene Training waren so gut wie das Training alle zwei Tage. Die lockeren Bewegungseinheiten plant man an den Tagen dazwischen. Selbst wenn in drei Wochen ein Turnier ansteht, macht es mehr Sinn, intensiv und sinnvoll drei Tage die Woche etwas zu üben und den Rest der Woche das Pferd mental fit zu halten. Sonst kommt es schon gestresst auf den Turnierplatz.
Auf welche Hinweise muss man achten, wenn man die Komfortzone verlassen hat – wie lang ist das Pferd dann noch ansprechbar?
Körperliche und psychische Überlastung zeigt sich in Mimik, Gestik, Körperspannung, Atmung. Manche Pferde halten die Luft an und atmen erst wieder aus, wenn sie sich wohlfühlen. Wir können erkennen, wann das Pferd in einen Stressmoment kommt, klassischerweise sind das geweitete Augen und Nüstern, die Lippen pressen aufeinander, der ganze Körper hat einen höheren Tonus. Stärkere Zeichen sind dann schon, wenn das Pferd mehr nach Außenreizen guckt, sobald es in eine Überforderung kommt, wenn es versucht aus der Situation wegzukommen oder sie abzuwehren.
Wie lang kann man im Stress-Bereich bleiben?
Das Pferd sollte nur einen kurzen Moment in einem Zustand bleiben, den es noch nicht sortieren kann. Bei der Dressur kann das ein kurzer Versammlungsmoment sein, das Genick kommt hoch, die Hinterhand tritt unter den Schwerpunkt. Nach ein paar Sekunden entlasse ich es wieder in die Entspannung und damit in den Komfortbereich. Ein Fluchttier assoziiert unglaublich schnell. Wenn es einen unangenehmen Moment hat, versucht es diesen zu vermeiden. Das heißt, das Unangenehme muss dynamisch in einer Tour in etwas Positives geleitet werden und das wiederholt man dann ein paar Mal.
Wie wichtig ist das Timing des Lobes beim Training?
Ganz wichtig, der Moment des gewünschten Verhaltens muss schon gelobt werden, der Druck muss nachlassen und man geht dann wieder in den „Jackpot“ über, in die Dehnung, in die Pause, ins Stehen, was auch immer für das Pferd positiv wirkt. Wir spielen also immer hin und her, sodass das Pferd erkennt, es verändert sich immer und ich bleibe nicht in einem Gefahrenmoment stehen. Denn das wäre völlig unnatürlich – das Pferd würde von seiner Natur aus immer aus so einer Situation fliehen und nie länger als ein paar Sekunden in einer Gefahrensituation bleiben.
Aber es ist ein schmaler Grat, auf dem sich der Reiter mit seinem Pferd bewegt.
Das stimmt. Gerade beim Pferd sorgsam mit diesen Druckmomenten umgehen, vor allem mental. Denn beim Pferd switscht das Verhalten schnell in Panik um. Es ist absolut wichtig: Das Pferd muss den Druck nicht aushalten! Das wäre völlig unnatürlich. Wir sind in der Verantwortung, dem Pferd zu zeigen, was es mit diesem Spannungsmoment machen soll. Erst nach und nach kann ich den Druck etwas länger halten und sekundenweise erhöhen. Wir reden wirklich von extrem kurzen Sequenzen.
Wie leicht fällt es einem Pferd, Dressurlektionen zu lernen?
Bewegungslernen ist für ein Pferd recht einfach, deshalb lernt es aber auch Fehlmuster so schnell. So etwas wie Kopf hoch, Unterhals raus – wenn das erst mal drin ist, wird es schwierig, so einen Bewegungsablauf wieder rauszukriegen. Das Pferd hat ein relativ großes Kleinhirn, das heißt Bewegungsabläufe sind schnell erlernt und können schnell automatisiert werden.
Wenn man beispielsweise merkt, dem Pferd fällt das Schulterherein geradezu in den Schoß, dann ist es doch verführerisch, es direkt entlang der ganzen langen Seite zu reiten – ist das schlimm?
Die Frage ist, habe ich dann noch einen Trainingseffekt? Ist das Pferd in der Versammlung? Wir haben eine Physis, die eine Anspannung und eine Entspannung braucht, und eine Psyche, die eine Anspannung und eine Entspannung braucht. Das Gehirn ist wie ein Muskel. Die Abläufe müssen automatisiert sein, dann können wir auf die Länge der Übung gucken. Deswegen macht es wenig Sinn, am Anfang das Schulterherein ewig lang zu reiten. Wenn wir etwas Neues üben, sollten wir bewusst darauf achten, dass das Pferd die Übung gar nicht erst mit etwas Negativem assoziiert. Sonst kann sich das ausweiten und das Pferd macht auch andere Dinge nicht mehr mit dem Menschen.
Warum ist es überhaupt so wichtig, das Pferd aus seiner Komfortzone herauszuholen? Man könnte doch auch sagen, „den Stress tue ich meinem Pferd nicht an“.
Ich bin nicht dafür, keinen Druck zu machen. Das hat für mich nichts mit Pferdeliebe zu tun. Weil, wenn wir dann mit dem Pferd ausreiten und es weiß nicht, an wen es sich wenden soll, wenn beispielsweise Rehe über den Weg laufen, kriegt das Pferd Angst und will zurück zu seiner Herde. Das heißt, es ist gut und wichtig zu üben, wie es ist, von der Herde weg zu sein. Es geht darum, mental Stressmomente vorzubereiten. Damit es ohne Stress mit uns in den Wald geht, auf einen anderen Reitplatz, auf ein Turnier oder allein in der Halle sein kann. Wir haben die Verantwortung, dem Pferd unsere Welt zu erklären. Und das bedeutet auch, dass es sich wohl und sicher fühlt. Dazu gehört auch, mit uns kleine Aufgaben und auch mal schwierige Aufgaben zu lösen. Training bedeutet, über Grenzen zu gehen.
Sie haben zum Thema Konzentration für Ihre Doktorarbeit geforscht – wie lang kann sich ein Pferd konzentrieren?
Konzentration ist gar nicht so einfach als Versuch darzustellen. Ich habe meine Ponys für meine Doktorarbeit Knöpfe drücken lassen, sie mussten Figuren wie Flugzeuge und Kreise erkennen. Ich konnte zeigen, dass Pferde vier bis fünf Figuren auseinanderhalten können. Das ist abstraktes Lernen. Das habe ich eineinhalb Jahre dreimal in der Woche gemacht, zweimal 20 Durchläufe pro Tag. Jeder Durchlauf hat sechs bis sieben Minuten gedauert. Nach einem Jahr Pause haben wir ihr Gedächtnis getestet: Die Shettys gingen rein, waren motiviert, aber sind nicht mehr auf diese 80 Prozent richtige Entscheidungen gekommen, obwohl die Aufgaben einfacher waren. Was ist passiert? Die Ponys wurden ein Jahr lang mit keinerlei Training konfrontiert. Sie waren nur auf der Weide. Die These war, dass eine Konzentrationsfähigkeit von sieben Minuten ein Produkt von langem Training ist.
Das ist eine gute und eine schlechte Nachricht für alle Dressurreiter. Es ist möglich, aber es dauert.
Wenn ich mit einem Berittpferd beispielsweise eine halbe Stunde insgesamt arbeite, mache ich in dieser Zeit viele Pausen. Bei neuen Übungen nach ein paar Sekunden, irgendwann nach einer Minute. Das heißt, ich stretche meine Konzentrationskapazität des Pferdes sekunden- bis minutenweise, bis ich irgendwann bei fünf Minuten am Stück bin. Das muss man erst mal beachten! 60 Minuten Lektionen am Stück – solange kann kein Pferd mental auf der Höhe bleiben. Es ist nicht dafür gemacht, sich so lange zu konzentrieren. Wenn ein Pferd sich auf den Grashalm, den es frisst, konzentrieren würde und nicht mitkriegt, dass der Räuber kommt, wäre es tot.
Wir Menschen können uns in einen Tunnel begeben und von der Außenwelt nichts mehr mitbekommen.
Wir sind völlig anders gemacht. Wir können auf einen Computer starren und wissen nicht, dass schon vier Stunden rum sind. Wir waren im Flow. Wenn das Pferd das tun würde, wäre es lebensgefährdet. Das Pferd ist dafür gemacht, alle paar Sekunden spätestens zu switchen, auf außen, auf uns, auf das Auto, das da gerade kommt. Und wir denken, „ach, jetzt hör auf zu gucken!“ Nee, das Pferd ist dafür gemacht. Es ist darauf ausgestattet, dass Adrenalin zwei Sekunden in den Körper strömt und dann wieder Serotonin, wenn es sich entspannt. Denn es muss die Pause nutzen, die es hat. Das Pferd verfällt unglaublich schnell in Modi. Sich auf uns zu konzentrieren, das müssen wir erarbeiten.
Wie wichtig ist Abwechslung für die mentale Fitness?
Es kommt drauf an, wie hochgradig abwechslungsreich es ist.
Ich hätte mit einer Antwort wie „Abwechslung ist das A und O“ gerechnet.
Wir wissen, dass Muster und gleiche Abläufe uns Sicherheit geben. Auch dem Pferd. Ich habe gerade ein eher ängstliches Trainingspferd. Mit ihm haben wir unsere täglichen Abläufe, damit es Sicherheit hat. Aus diesen Ritualen gehe ich immer wieder trainingstechnisch raus und sage, „heute machen wir es ein kleines bisschen anders, aber ich verspreche dir, danach machen wir wieder unser Muster“. Für so ein Pferd wäre hochgradige Abwechslung wie „heute in den Wald, morgen im Round Pen, übermorgen in der Halle“ einfach zu viel.
Habe ich ein Pferd, das eher unmotiviert ist, wäre immer das Gleiche wiederum kontraproduktiv. Dann kriege ich es gar nicht motiviert, auf etwas Neues zu achten. Bei so einem Typ Pferd gehe ich öfter aus solchen Mustern raus. Da würde ich das Training eher abwechslungsreich gestalten, um den Trainingsinhalt in verschiedenen Situationen zu generalisieren. Denn je mehr ich mich von meinem Umfeld unabhängig mache, was ich mit meinem Pferd mache, umso stabiler wird auch das, was ich mit meinem Pferd mache. Wenn ich die Piaffe vom Boden, in der Halle, im Gelände und auf der Messe zeigen kann, dann ist die Piaffe einfach sicher. Aber wenn die Piaffe das Pferd überfordert, weil sie noch nicht ganz sicher sitzt, dann würde ich mir durch die Piaffe an einem anderen Ort in meinen Trainingserfolg reingrätschen.
Es bleibt also auch hier eine Frage des „Wie“. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Dr. Gabor.
Dieses Interview ist erstmals erschienen in der Reiter Revue-Ausgabe 8/2022.
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Was ist pferdegerecht?