Therapiepferde
Wie Pferde kleine Wunder schaffen
Jan hat heute das große Los gezogen. Er darf mit Perla ins Gelände. Und ein Ball ist auch mit dabei. Jan liebt Fußball – aber bloß nicht den FC Bayern, da ist er sich mit Kerstin, die neben ihm und Perla geht, sehr einig. „Das ist nicht unser Verein, nicht wahr, Jan?“ „Nee!“, sagt er, lacht und wirft seitwärts auf Perla sitzend den grünen, weichen Stoffball im hohen Bogen zurück zu Kerstin. Kerstin ist heilpädagogische Fachkraft für therapeutisches Reiten und Jan ihr ehemaliges Kindergartenkind. Ein gesunder Junge, jetzt acht Jahre alt und in der zweiten Klasse. Mit dem Lesen und Schreiben tut er sich etwas schwer, früher war er oft hibbelig, auch ängstlich. „Aber mit Perla und Kerstin ist das alles viel besser geworden“, erzählt Jans Mutter. „Bei den Pferden fühlt er sich wohl, er kommt zur Ruhe.“ Bei ihnen habe Jan an Selbstbewusstsein gewonnen, dank Fjordstute Perla. „Er hat sogar ein Stofftier namens Perla.“
Wir sind am Zentrum für Therapeutisches Reiten Johannisberg in Windhagen nahe Bonn. Wer hier mit dem Auto ankommt, lässt spätestens an der letzten Kreuzung den Alltagstrubel hinter sich. „Langsam fahren“, lautet dort die vorgeschriebene Entschleunigung. Ringsherum sind Wiesen, eine riesige eingezäunte Weide, Wälder in den schönsten Herbstfarben, hügeliges Gelände. Oh, du schöner Westerwald. Und mitten in dieser Kulisse liegt das Therapiezentrum von Marion Drache. Sie ist studierte Kommunikationswissenschaftlerin, aber ihr Herz schlägt vor allem für die Pferde – und wenn es dabei noch um Zucht oder (Vielseitigkeits-)Sport geht, dann darf es gerne ein Trakehner sein. Mit wenigen Ausnahmen. Die Schimmelstute Weisse Düne, mit der Ingrid Klimke seit Jahren erfolgreich ist, gehört Marion Drache und ist Holsteinerin. Und auch auf dem Johannisberg ist die Pferdeauswahl vielfältig. Insgesamt 19 Pferde leben hier und leisten Großes. Denn sie sind, waren oder werden Therapiepferde.
„Einmal mit Pferden unter einem Dach zu leben“, war Marion Draches Traum, als sie 1999 mit ihren zwei Trakehnerstuten nach Windhagen zog. Es war ihr Vater, Willi Drache, ein erfolgreicher Unternehmer aus Solingen, der sie dabei unterstützte. „Es war aber alles rein privat und zu meiner persönlichen Freude. Mehr nicht.“ Bis 2004. „Ich weiß noch, das war an Weihnachten, da sah mein Vater eine Sendung auf WDR über Therapeutisches Reiten. ‚Das wär doch was für euch. Dann würde das alles hier auch einen Sinn ergeben‘, hat er gesagt.“ Willi Drache half seiner Tochter, wo es ging, der Bau der Reithalle, war nur durch ihn finanziell möglich. Und Marions Mann Werner Bauch war von da an Feuer und Flamme, den Erfolg des Therapeutischen Reitens untersuchen zu lassen und zu belegen. Seither ist viel passiert.
Wie der Bau der Offenställe, eingegliedert in das Gelände des Johannisbergs. „Mit jedem Stall haben wir etwas dazugelernt und beim nächsten umgesetzt“, sagt Marion Drache. Alle Pferde sollten hier in Kleingruppen leben. Die möglichst artgerechte Haltung ist für sie eines der Kernstücke ihres Betriebs. „Die Gesundheit und das Wohl des Pferdes soll immer im Vordergrund stehen“, sagt sie. Das möchte sie täglich sehen und erleben. „Wenn wir zu den Pferden gehen, möchte ich, dass sie zu uns kommen, sich uns zuwenden. Gerade bei Therapiepferden ist es so wichtig, dass sie ihren Job gerne tun.“ Ob ein Pferd schon mal nicht mehr wollte? „Ein einziges Mal in all den 18 Jahren“, sagt sie. „Unsere Fjordstute Perla hatte eine Phase, in der sie die Ohren anlegte, wenn Kinder kamen. Wir haben sie dann aus dem Therapiebetrieb rausgenommen, ihr eine Auszeit gegeben, vier Wochen. Danach war wieder alles in Ordnung.“
Unterschätzte Leistung
Trakehner, Fjordpferde, Kaltblüter gehen im Therapiebetrieb in Windhagen. „Ein guter Therapiebetrieb hat möglichst viele verschiedene Pferde: große Pferde, kleine Pferde, breite Pferde, schmale Pferde. Manche Patienten können beispielsweise aufgrund von Spastik gar nicht auf so einem breiten Kaltblut sitzen“, erklärt sie. Ob groß oder klein, ein gutes Therapiepferd hat ein ausgeglichenes Interieur und ist mental wie körperlich gesund.
Die Leistung der Therapiepferde wird oft unterschätzt. Sätze wie „die gehen doch nur Schritt“ kennt Marion Drache genauso wie den Irrglauben mancher Pferdebesitzer, das ausgediente Sportpferd mit Sehnenschaden oder sonstigen Mängeln könne doch noch Therapiebetrieb laufen – dafür wird’s ja wohl reichen. „Aber so ein Therapiepferd muss topfit sein, sonst ist es den Anforderungen nicht gewachsen. Es muss in seinem Exterieur korrekt sein, darf keine groben Stellungsfehler haben. Die Farbe spielt übrigens auch eine Rolle. Jungs lieben schwarze Pferde, Mädchen lieben Fjordis.“ Da ist Jan eindeutig die Ausnahme – er liebt Fjordstute Perla.
Zur pferdegestützten Therapie kommen Patienten mit den unterschiedlichsten Handicaps oder Abweichungen von allem, was man gemeinhin als „normal“ bezeichnet. Jedes Handicap ist eine Herausforderung für das Pferd: „Der eine klemmt, der andere hat keine Körperspannung. Das alles muss das Pferd mit seinem Körper, seinem Rücken, seinen Beinen ausgleichen – das ist anstrengend, auch im Schritt.“ Hinzu kommen die mentalen Ansprüche, die Geräuschkulisse, das ständige Umstellen auf einen anderen Menschen. „Man muss auch gucken, welche Pferde sich für welche Klienten eignen. Wenn ich an meine Rentner denke: Rastafari beispielsweise war schon von zwei Kindern genervt, der ging nur in der Hippotherapie. Aber Vivaro konnte gar nicht genug Kinder um sich haben. Darauf muss man sich natürlich einstellen.“ Rastafari und Vivaro gehören zur Rentnerbande auf dem Johannisberg, sie sind im vergangenen Jahr im stolzen Alter von 24 und 25 in den Ruhestand gegangen. Gesund.
Pferde stärken
Dahinter steckt ein gutes Management. Neben der Haltung gehört dazu der sorgsame Einsatz der Pferde. Fünf Mal in der Woche gehen sie im Therapiebetrieb, zwei Therapiestunden pro Tag – eine dauert etwa eine halbe Stunde.
Um die Pferde fit zu halten, werden sie regelmäßig und abwechslungsreich geritten: dressurmäßige Gymnastik, Cavaletti-Arbeit, Ausritte ins Gelände. Die Basis bildet die Grundausbildung zum Reitpferd. „Sie muss reell ablaufen, nach den Kriterien der Ausbildungsskala, heißt: korrekt über den Rücken, Lastaufnahme durch die Hinterhand. Im Interesse der Gesunderhaltung des Pferdes.“
Die dann folgende therapiespezifische Ausbildung dauert etwa ein Jahr. „Wir arbeiten über Desensibilisierung. Wir halten den Reiz erst klein, lassen ihn dann immer größer werden. Das Pferd lernt Aufgaben aus Gelassenheitsprüfungen behutsam kennen.“ Dann erst wird es in der Therapie eingesetzt.
Neue Welten
Pferde können in den sozial-emotionalen Bereich beim Menschen und in den physiologischen Bereich wirken. „Sozial-emotional hat das Pferd eine gewisse Ausstrahlung. Es ist groß, es ist stark, vielleicht schön. Jeder Mensch reagiert darauf, keiner kann sich dem entziehen, wenn er einem Pferd gegenübersteht“, erklärt Marion Drache. „Gerade Menschen, die Defizite im sozial-emotionalen Bereich haben, sind häufig dafür offen. Zum Beispiel Autisten, die in ihrer eigenen Welt leben, aber die sich häufig durch das Pferd auf einmal nach außen orientieren und wahrnehmen: Da ist noch was anderes als in meiner eigenen kleinen Welt hier.“ Pferde spiegeln das Verhalten, sie öffnen den Menschen. „Wir hatten auch mal ein Kind, das nicht gesprochen hat und das erste Wort, das es irgendwann sagte, war der Name des Pferdes. Dafür gibt es wiederum eine physiologische Erklärungskette: Denn die Bewegung auf dem Pferd lockert und entspannt das Zwerchfell. Sprachstörungen resultieren häufig aus einem verspannten Zwerchfell.“
Bei neurologischen Erkrankungen kann das Therapiepferd ebenso helfen. Durch seine dreidimensionale Bewegung im Schritt, dem Rauf-runter, Rechts-links und Vor-zurück bewegt es Muskulatur, die beim Gehen normalerweise gebraucht wird, aber bei einem Rollstuhlpatienten verkümmert und zu Rückenschmerzen führt. Kinder und Jugendliche mit sozialen Auffälligkeiten, mit Bindungsstörungen, Aggressivität finden im Umgang mit dem Pferd und auf dem Rücken des Pferdes ein Stück zur Ruhe.
Das alles klingt sinnvoll und schön. Was fehlt, ist finanzielle Unterstützung. Eine Therapiestunde kostet je nach Betrieb zwischen 40 und 80 Euro. Nur in Sonderfällen wird sie von der Krankenkasse, der Pflegekasse, vom Sozial- oder Jugendamt übernommen. Der Grund: Es gibt noch zu wenige wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit der pferdegestützten Therapie.
Ein intimer Ort
Was an diesem Tag auffällt: Therapeutisches Reiten ist Teamarbeit. Einer allein kann es nicht richten und das Pferd auch nicht. Es braucht qualifizierte Fachkräfte, wie Physiotherapeutin Andrea Adam, die an diesem Tag ihrer an Parkinson erkrankten Mutter eine Hippotherapiestunde auf Lilia gibt. Da sind helfende Hände wie Luca und Mona, die die Pferde pflegen und versorgen, sie in den Therapiestunden führen, am Langzügel begleiten, sich um die Kinder und Jugendlichen in der Gruppentherapie kümmern, wenn diese nicht gerade auf dem Pferd sitzen.
Und da ist Kerstin Michel, von der an diesem Nachmittag alle schwärmen. Seit 17 Jahren ist sie in Windhagen. Früher ritt sie Dressur bis Klasse M. Sie leitet eine Kita. Am Therapiezentrum hatte sie anfangs die Voltigiergruppen übernommen, dann überzeugte Marion Drache sie, die Ausbildung zur staatlich anerkannten Fachkraft in der heilpädagogischen Förderung am Deutschen Kuratorium für Therapeutisches Reiten (DKThR) zu machen. Seit acht Jahren arbeitet sie als solche in Windhagen – salopp gesagt, ist sie neben den Pferden die Perle des Betriebs. Sie hat eine charmante, leichte Art mit den Menschen zu arbeiten, sie dort abzuholen, wo sie gerade sind. Sie meistert die Situationen mit Humor und einem Augenzwinkern und begegnet den Menschen mit Respekt. „Es ist herzerfüllend mit den Menschen hier zu arbeiten, sie so glücklich zu sehen und zu begleiten“, sagt sie.
Wenn Kerstin arbeitet, baut sie eine Art Blase um sich und den jeweiligen Patienten auf. Wie ein intimer Raum, wo es nur die zwei und das Pferd gibt. Sie sind unter sich. „Viele Kinder sind so in sich und lassen auch keinen rein. Das hier ist ihr Setting, ihr Pferd, ihre Zeit.“ Und die gestaltet Kerstin Michel mit individuellen Auf-gaben, angepasst an das, was der Patient kann, sodass er mit einem guten Gefühl nach Hause fährt und sich auf die nächste Therapieeinheit freut.
Wie die Gruppe, die sich jetzt am Freitagabend giggelnd auf dem Putzplatz rund um die Rheinisch-deutsche Kaltblutstute Mariechen tummelt: Rebecca, Svea, Hannah und Nico sind aufgedreht und aufgeregt. Reiten und dann ist auch noch Besuch von der Presse da. „Ich bin Rebecca und wer bist du“, stellt sich die 16 Jahre alte Rebecca vor. Stolz wie Bolle heute zu zeigen, was sie schon alles kann. Rebecca hat das Down Syndrom, hat körperliche und geistige Einschränkungen. Doch als sie auf Mariechens Rücken sitzt, strahlt sie über beide Ohren. Mit Kerstin wirft sie sich Ringe zu – ein koordinatives Kunststück. Aber noch besser findet sie es, am Ende nochmal traben zu dürfen. „Ich bin Profi im Traben. Guck mal!“ ruft sie, streckt den Arm aus und zeigt mit dem Daumen nach oben. Wir gucken alle. Und sehen pures Glück.
Dieser Artikel ist erstmals erschienen in der Reiter Revue-Ausgabe 1/2023.