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Special Olympics-Reiter nominiert für Sportlerwahl

Michel bringt die Welt in Ordnung

Michael Thißen aus Münster zählte bei den Special Olympics in diesem Jahr zu den erfolgreichsten Sportlern. Wir haben ihn kurz danach besucht. Passend zur Sportlerwahl-Nominierung gibt es hier die Reportage.

Michael Thißen in Abu Dhabi.

Oh ja, auch Berni kann sich mal erschrecken. Der genügsame Warmblutwallach aus dem Integrativen Reittherapiezentrum der Alexianer in Münster, den eigentlich so schnell nichts aus der Ruhe bringt, bläht die Nüstern beim Anblick der im Wind schlagenden Flaggen in Martina Schuchhardts Hand. Ein Satz zur Seite und sein Reiter Michael Thißen sitzt im Sand. „Kann passieren“, sagt Schuchhardt, lacht und legt die Flagge erst einmal zur Seite. Thißen klopft den Sand von seiner Hose, zuckt mit den Schultern und steigt wieder in den Sattel. So wie es echte Reiter eben tun. „Bei den Special Olympics, als er die ersten Male auf dem Leihpferd saß, hatte ich schon etwas Angst um den Michel“, sagt Schuchhardt und blickt auf ihren Schüler, der in seiner Special Olympics-Ausstattung auf dem Reitplatz mittlerweile wieder seine Runden dreht. Dreifach vergoldetDie World Games für Sportler mit geistigen Behinderungen aus rund 200 Ländern, die im März in Abu Dhabi stattfanden, hatten es für die Reiter in sich. Generell sind die Wettbewerbe anders aufgebaut als im Regel- oder Para-Sport. Eigene Pferde dürfen nicht mit. Und die Auswahl der Leihpferde kann durchaus überraschen. „Ein Scheich hat zu den 50 Schulpferden der Anlage noch 100 Pferde zur Verfügung gestellt: Renn- und Distanzpferde, ziemlich blütig. Damit hatten alle ihre Probleme“, berichtet Schuchhardt. „Beim zweiten Ritt trommelte gerade der Hagel auf das Dach der Arena. Da hingen zwei Männer an Michels Pferd.“ Sie lacht. Michael stimmt ein. Das war sicherlich nicht die schönste Erfahrung, aber es wurde besser. Als die Wettkämpfe begannen, legte der 30-Jährige gleich im sogenannten Working Trail, einem Geschicklichkeitsparcours, eine gute Runde hin. Gold. Auch die Dressuraufgabe gelang. Gold Nummer zwei. Und das Triple machte er in der English Equitation perfekt, einer Art Reiterwettbewerb nach Anweisung der Richter. „Obwohl es gar keine Zirkelpunkte gab“, wirft er ein. Kleinigkeiten, die ihn schon mal aus der Ruhe bringen können. Michael Thißen, oder „Michel“, wie ihn Martina Schuchhardt nennt, ist eigentlich ein ruhiger Typ. Auf eine klare Frage, gibt er eine klare Antwort. Stellt man mehrere Fragen gleichzeitig, fällt die Antwort ähnlich knapp aus. Zu viele verschiedene Informationen bringen ihn durcheinander. „Alles der Reihe nach“, ist Schuchhardts Devise, wenn sie ihn und seine Kollegen in den täglichen Aufgaben im Stall des Therapiezentrums anleitet, wo er neben den Reitstunden auch arbeitet. Seine Geschichte begann traurig. Er wurde mit neun Jahren aus seiner Familie genommen und kam in ein Heim. Dort musste er erstmal mühsam und mit Unterstützung die einfachsten Dinge lernen, wie eigenständig zu essen. Es gab auch Pferde. Aber richtig reiten lernte er erst, als er umzog und zu den Alexianern kam. „Man merkt, wer in den normalen Therapiestunden mehr Biss hat, kommt, egal ob es kalt oder heiß ist und nie den Apfel fürs Pferd vergisst“, erzählt Schuchhardt, wie sich die Reitstunden der Special Olympics-Gruppen entwickelt haben. „Wir haben mit Longenstunden angefangen“, berichtet die 56-Jährige, die seit 19 Jahren das Reitzentrum der sozialen Einrichtung leitet. Dann, wie der Zufall es so wollte, fanden 2003 Fußballwettbewerbe der nationalen Special Olympics Spiele in Münster statt. „Da waren die Alexianer eingebunden. Und plötzlich sprach man uns an, ob wir nicht auch mal eine Reit-Mannschaft stellen wollen, wo wir doch das Reitzentrum haben. Mein Chef sagte ganz locker: ‚Klar machen wir das.‘“ So fuhr Martina Schuchhardt mit ihrem Team 2004 zum ersten Mal zu den nationalen Spielen. „Wir sind mit zwei Reiterinnen, zwei Pferden und vier Betreuern losgefahren nach Hamburg zu den National Games. Da sind alle Sommersportarten dabei und ich habe eine olympische Eröffnungsfeier mit Fahnen, Feuer und Eid zum ersten Mal richtig erlebt.“Bei den diesjährigen Weltspielen in Abu Dhabi schwappte das Olympische Gefühl des gemeinsamen Erreichens großer Leistungen so richtig über. „Wir wurden schon am Flughafen mit einem großen Transparent willkommen geheißen, von der Polizei eskortiert und selbst die Einkaufstüten in den Supermärkten waren mit dem Logo der Special Olympics bedruckt.“ Mitarbeiterin Nadine Fister ist begeistert über die Anerkennung, die man den Sportlern und Betreuern entgegengebracht hat. Das Zusammentreffen mit rund 7.500 Sportlern verschiedener Disziplinen hat diesen besonderen Gänsehautfaktor. Und wie bei den Olympischen Spielen hatten die Athleten auch bei den Special Olympics neben den Wettbewerben vor allem eines im Sinn: So viele Pins wie möglich mit den anderen Nationen tauschen, denn jedes Land bringt einen eigenen Olympia-Pin heraus. Heiß begehrte Sammel-Objekte. Dafür haben sie auch hart trainiert.Vier Special Olympics-Gruppen bietet Martina Schuchhardt in der Woche an. Sie ist herzlich, aber direkt, schließlich hat sie Erwartungen an ihre Schüler. „Es geht für alle darum, das Pferd kontrolliert und tiergerecht reiten zu können“, sagt die gelernte Pferdewirtin klar. Auch hier gilt: Nicht zu viele Informationen auf einmal. Kurz, knapp, präzise – „Ich sag immer ‚Boah, reite!‘ Dann wissen sie, sie müssen was tun und aktiv werden“, sagt Schuchhardt und lacht. Ansonsten unterscheidet sich der Unterricht kaum von dem für Regelsportler. Spaß mit dem Pferd sollen die Schüler haben. Und den Pferden soll es dabei gut gehen. Die Zügel in der Hand„Ich wollte schon immer was mit Pferden machen und auf jeden Fall Bereiter lernen“, erzählt die sympathische, bodenständige Frau, die mit ihren Schülern schon bei vier Weltspielen der Special Olympics war. Erst habe sie Konditor gelernt, dann aber den Pferdewirt Zucht und Haltung gemacht und zuletzt die Fachrichtung Reiten eingeschlagen. Ihr größter Lehrmeister war Dr. Reiner Klimke. „Ich wollte aber immer die Basisarbeit machen und Pferde so reiten, dass andere sie nachreiten können.“ Als im Jahr 2000 die Leitung für den Therapiebetrieb gesucht wurde, war sie sich nicht sicher, ob sie mit Reitern mit Handicap problemlos arbeiten kann. Aber sie hatte den Mut, es zu versuchen. Neben den Special Olympic-Gruppen steht die Reittherapie an erster Stelle. „Die Patienten aus dem Akutkrankenhaus lernen beispielsweise bei uns, die Zügel wieder selbst in die Hand zu nehmen“, formuliert sie es. „Denn es gibt Menschen, die sich nicht mehr trauen, aus der Haustür zu gehen. Hier müssen sie selbst zum Stall kommen und wenn sie auf dem Pferd sitzen und ihm die Richtung weisen, sind sie schon einen großen Schritt weiter.“Selbstständigkeit ist das Ziel, das sie von Patienten und Schülern fordert. Die Pferde helfen dabei. Bei jedem Neukauf lässt Martina Schuchhardt ihre Special Olympics-Reiter deshalb selbst testreiten. „Wenn ich den Verkäufer am Telefon frage, ob unsere Reiter mit Behinderungen das Pferd ausprobieren können und sie zögern, fahre ich gar nicht erst hin“, sagt sie klar. Genauso strikt ist sie auch bei ihren Reitern. „Wenn man bei den Special Olympics starten will, ist das Leistungssport. Dann sollte man sich auch außerhalb des Reitens sportlich betätigen und auf sein Gewicht achten“, spricht die Trainerin aus ihr. Denn die Konkurrenz wächst. Auch im eigenen Land. „In den Anfängen konnte man sich zu nationalen Spielen anmelden, weil es wenig Reiter gab. Mittlerweile muss man einen Anerkennungswettbewerb reiten, in dem man sich für die nationalen Spiele qualifizieren muss. Das sind quasi die Deutschen Meisterschaften.“ Die Besten werden für die Weltspiele nominiert. Kader gibt es nicht. „Man will jedem ermöglichen, mal teilzunehmen. Deshalb müssen die, die einmal dabei waren, in einem höheren Level starten oder dürfen nicht mehr mit“, erklärt Schuchhardt. Es gibt drei Level. Das niedrigste ist Level C, wo Michael Thißen gestartet ist. Hier wird alles im Schritt geritten, noch einmal unterteilt in geführt und alleine. In Level B kommt auch der Trab dazu. Level A fordert sogar einen kleinen Springparcours. Ob Michael bei den nächsten World Games 2023 in Berlin ein Level höher startet, weiß er noch nicht. Er strampelt jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit. Bei Wind und Wetter. Seit 2008 gehört er zum Team der Alexianer. Mittlerweile gehört er zu denjenigen, die auch mal neue Pferde testreiten. „Am liebsten haben wir die Alt-Oldenburger mit weniger Bewegung, dafür gut zu sitzen und kräftig“, erzählt Martina Schuchhardt. „Die gibt es nur immer seltener.“ Die ältesten Pferde, die noch fit in der Therapie eingesetzt werden, sind Mitte 20. Dahinter stecken ein gezielter Einsatz und gute Betreuung, die sich nicht nur darin widerspiegelt, dass Martina Schuchhardt großen Wert darauf legt, dass die Reiter viel leichttraben und die Tiere selbst locker longiert und Korrektur reitet. „Zwei bis drei Mal im Jahr kommen die Absolventen des Osteopathie-Kurses des Deutschen Instituts für Pferdeosteopathie zu uns und behandeln die Pferde“, berichtet Schuchhardt. Eine Kooperation, die für beide Seiten gewinnbringend ist. Michael Thißen hat seine Reitstunde für heute beendet. Er sitzt ab und belohnt Berni mit einem Leckerli. „Dann führ ihn mal in den Stall und sattel ihn ab“, kommt sofort von Martina Schuchhardt. Klare Ansage, viel Herz.

Die Sportlerwahl:

Für seine besonderen Leistungen ist Michael Thißen nun nominiert für den Felix-Award, der die besten Sportler des Landes Nordrhein-Westfalen auszeichnet. Thißen ist einer von fünf Kandidaten im Bereich „Behindertensport“.

Mit ihm zur Sportlerwahl nominiert sind bekannte Gesichter wie die Reiterinnen Ingrid Klimke und Isabell Werth, Tischtennisspieler Timo Boll, Leichtathletin Konstanze Klosterhalfen oder auch Fußballer Marco Reus. Die Preisverleihung findet im Dezember in Düsseldorf statt, online kann bis zum 1. Dezember unter
www.nrw-sportlerdesjahres.de abgestimmt werden.