Zum Inhalt springen

Drücken Sie Öffnen / Eingabe / Enter / Return um die Suche zu starten

Reportage

Gillis große Liebe

Einmal schon hatte er sich in Hamburg in die Geschichtsbücher eingetragen. Mit dem ehemaligen Schulpferd Hello Max. In diesem Jahr setzt Gilbert Tillmann auf Claus Dieter. Über einen Mann, dessen Herz fürs Derby schlägt – wir haben ihn begleitet.

Entspanntes Grasen im Derby-Park. „Am ersten Tag wäre daran noch nicht zu denken gewesen“, sagt Gilbert Tillmann über Claus Dieter.

Die Menschenmassen toben. Der sonst so beschauliche Jenischpark in Hamburgs gediegenem Stadtteil Klein Flottbek ist in diesem Moment ein Ort voller Emotionen. Tausende von Menschen springen auf, grölen, klatschen, jubeln, liegen sich in den Armen. Es ist 15:31 Uhr und der Reiter im vielleicht schwersten Parcours der Welt hat diesen ohne einen einzigen Fehler gemeistert. Es ist Gilbert Tillmann mit seinem Schimmel Claus Dieter. Menschen feiern ihn – und er könnte die ganze Welt umarmen. Denn das Derby ist Gilbert Tillmanns große Liebe.

Womöglich ist das Derby sogar der Grund, warum er überhaupt eine Karriere als Springreiter gemacht hat. Sein Vater Friedhelm wollte seine Jungs Frederic und Gilbert als kleine Bengels für den Reitsport begeistern, lockte sie an den Wochenenden vor den Fernseher, wenn von einem großen Turnier berichtet wurde. Gilbert interessierte das nicht sonderlich. Bis er das erste Mal das Derby sah. Er war sieben oder acht, so genau weiß er das nicht mehr. Aber er weiß noch, wie gefesselt er von diesem Parcours war. „Ich wusste, dass ich einmal beim Derby starten möchte.“

Hello Max erfüllte ihm den Traum. „Max hat eine enorme Bedeutung für uns, für mich. Er hat mir Erfahrung und Sicherheit gegeben, er hat mich 14 Jahre lang sportlich begleitet“, sagt Gilbert Tillmann. Für nicht mal 3.000 D-Mark hatte Friedhelm Tillmann den braunen Wallach gekauft, für den eigenen Schulbetrieb. Aber Hello Max setzte einen Reitschüler nach dem anderen in den Sand. Und so probierte der junge Gilli sein Glück mit ihm. „Er war schwierig, unberechenbar, fünfmal ließ er mich ohne Probleme aufsteigen, beim sechsten Mal lief er einfach los.“ Aber Tillmann und Hello Max wurden ein Traumpaar im Parcours, hoch erfolgreich in der schweren Klasse.

Eine Nummer zu hoch?

Es war 2004, Gilbert Tillmann war zu der Zeit an der Bundeswehrsportschule, als er das erste Mal den Derbyplatz betrat. Im Herbst. „Dort fand ein Reitturnier statt, ich war in der Nähe und wollte unbedingt diesen Derbyplatz sehen.“ Wie war der erste Eindruck? „Ich habe mich gewundert. Es war gar nicht so riesig, wie es im Fernsehen immer aussieht.“ Drei Jahre vergingen, bis Tillmann es wagte. „Erst habe ich mich nicht getraut, um eine Startgenehmigung zu bitten. Dann habe ich es doch gemacht und eine erhalten – die kriegt ja auch nicht jeder.“ Gilbert Tillmann kann sich nur zu gut an diese Zeit erinnern. „Ist das nicht ‘ne Nummer zu hoch für dich, Junge?“ oder „Was bildest du dir ein?“, haben einige zu ihm gesagt. Aber Gilbert Tillmann glaubte an sich und seinen Hello Max. Nur als er in Hamburg angekommen war und mit all den Profis und großen Namen auf dem Abreiteplatz ritt, rutschte ihm das Herz in die Hose. Die Qualifikationen liefen gut und er durfte am Sonntag an den Start. Und noch immer kamen Leute auf ihn zu, ob er nicht lieber verzichten wolle. „Ich dachte, ich bin so weit gekommen, jetzt will ich auch starten.“ Ein einziger Fehler unterlief ihm und Hello Max, an Pulvermanns Grab. Und Gilbert Tillmann und sein Pferd schafften es in die Platzierung. Ab da sagte keiner mehr was. Und Gilbert Tillmann war auch in den Jahren darauf ein gefeierter Derby-Gast.

Eigentlich wollte er Hello Max nach dem Derby 2012 in Rente schicken. Aber Tillmann versagten die Nerven. So wollte er Hello Max nicht verabschieden. Mentaltraining sollte ihm 2013 helfen, sich besser zu fokussieren und zu konzentrieren. Das gelang. Er gewann das Derby mit Hello Max im Stechen gegen Carsten-Otto Nagel und Lex Lugar. „Man sagt ja oft, dass etwas unglaublich ist, aber das war für mich wirklich unglaublich.“ Hello Max genießt mittlerweile seine Rente auf der Insel Usedom mit anderen Tillmann-Rentnern und Jungpferden.

Da oben hängt er: Hello Max, mit dem Gilbert Tillmann 2013 das Derby gewann.

Traumberuf Hufschmied

Auf dem Gestüt Gut Neuhaus in Grevenbroich bleibt er allgegenwärtig. Dort besuchen wir Gilbert Tillmann, eine Woche ehe er nach Hamburg aufbricht. Eine grüne Hecke umringt das Areal, unscheinbar und schlicht wirkt die Einfahrt, vorbei geht‘s am ersten Stalltrakt. Hinter der Kurve eröffnet sich einem die ganze Größe der Reitanlage. Friedhelm Tillmann hatte sie nach seinem Geschmack gestalten lassen: Altes Gemäuer, die Pferde in den Außenboxen blicken teilweise durch Torbögen auf das geschäftige Treiben auf dem Hof. Wie viele Pferde hier zu Hause sind? Gilbert Tillmann kommt ins Grübeln, zieht die braungebrannte Stirn in Falten, Achselzucken „120, 130?“ Sein Bruder Frederic und er sind mittlerweile verantwortlich für den Betrieb: Aufzucht, Ausbildung, Deckgeschäft, Turniervorstellung, Pferde-Verleih und -Verkauf – das ganz große Programm. Den Schulbetrieb, in dem Hello Max einst laufen sollte, gibt es auch, doch das Zepter darüber haben die jungen Tillmänner fremdvergeben. Der Betrieb ist das eine. „In erster Linie aber bin ich Hufschmied“, sagt Gilbert Tillmann. Hufschmied, das ist sein Traumberuf. „Als Bereiter war ich nicht gut genug, aber ich wollte unbedingt etwas mit Pferden machen, ich bin ein Handwerker, ja und dann blieb nur noch Hufschmied.“ Er ist ständig unterwegs. Manchmal ist Gilbert Tillmann froh, wenn er es überhaupt schafft, ein Pferd am Tag zu reiten. Abends warten seine Frau Jessica und die Töchter Leona, fast fünf, und Livia, zwei Jahre alt.

Claus – ein guter Freund

Und nun steht das Derby kurz bevor. Gilbert Tillmann steht unter Strom. Er muss noch einiges regeln – von Dienstag bis Sonntag wird er nicht da sein, eine lange Zeit, wenn man selbstständig ist. Und dann ist da auch schon dieses Kribbeln im Bauch. „Nervenstärke ist nicht meine Stärke“, gibt er zu und klopft nervös mit den Fingern auf den Holztisch. „Ich versuche, nicht so viel drüber nachzudenken.“ Sobald er im Parcours sei, werde es besser, „ab dem ersten Sprung geht’s“.

Mit Claus Dieter wird er dieses Jahr sein Glück versuchen. Wie 2017, als er Zweiter wurde. Und das obwohl er den damals noch acht Jahre jungen Clarimo-Cantus-Sohn nur sechs Wochen vorher von seinem Bruder Frederic übernommen hatte, nachdem Gilberts Derbypferd Hajib verletzungsbedingt ausfiel. „Mit Claus Dieter konnte ich sofort eine Beziehung aufbauen. Er ist Hello Max sehr ähnlich mit allen Vor- und Nachteilen“, sagt er. Claus Dieter sei ein Charakterpferd, „will im Parcours alles richtig machen. Er ist jung und temperamentvoll, dadurch passieren ihm noch Fehler, die nicht sein müssten, die ich aber auch nicht schlimm finde. Er will immer auf die andere Seite. Diese Einstellung ist sehr gut. Er ist ehrgeizig, manchmal übermütig und nicht ganz konzentriert.“

Wie Hello Max steht auch Claus Dieter gerne im Mittelpunkt. „Wenn man das zulässt, habe ich das Gefühl, dass solche Pferde nochmal eine Schippe drauflegen. Ich habe ihn behandelt wie einen Freund, wie jedes kleine Mädchen es machen würde: morgens als erstes begrüßen, eine Möhre geben, mittags besuchen, abends besuchen, mit ihm grasen gehen, ihn streicheln. Beim Reiten ihm so viel Spaß wie möglich lassen oder einfach nur mit Halfter und Strick ohne Sattel über den Hof spazieren.“

Claus Dieter trug Gilbert Tillmann durch den Derbyparcours – und musste kurz darauf den Stall verlassen. Der Wallach sollte da schon verkauft werden. Doch Anfang 2018 kam der große, kantige Schimmel mit den freundlichen Augen wieder zurück. Der Besitzer, der Schwiegervater seines Bruders, wollte Gilbert Claus Dieter noch einmal fürs Derby zur Verfügung stellen. Er könne sich keinen besseren Reiter für Claus vorstellen, habe er gesagt. Das machte Gilbert Tillmann stolz. „Er steht in der gleichen Box wie letztes Jahr, da bin ich abergläubisch“, sagt Tillmann. Dieses Mal hatte er dreieinhalb Monate Zeit. Ein paar Turniere ist er mit Claus vor dem Derby geritten, hat zwei Große Preise gewonnen, war vorne platziert. Zweimal hat Tillmann ihn auf seinem eigens gebauten Derby-Platz mit Wall und Bahnschranken trainiert, „war ganz gut“.

Mulmiges Gefühl

Zurück in Hamburg. Es ist der Derby-Samstag. Die Qualifikationen hat Tillmann hinter sich, die erste lief in Ordnung, fehlerfrei, aber noch nicht optimal aus Sicht des Reiters. Die zweite hat er vermurkst, zwei Fehler. „Mein Zweitpferd hatte zuvor das gemacht, was bisher noch keines meiner Pferde gemacht hat. Ich bin zum ersten Mal den Wall nicht runtergekommen. Da habe ich schon gedacht: Nicht dass der Claus sich auch so was ausdenkt“, erzählt er.

So richtig gut fühlt er sich nicht. Doch die lockere Runde am Morgen mit Claus Dieter habe ihn auch schon wieder besser gestimmt, sagt er. Der 36-Jährige führt Claus durch die Gasse im Stallzelt. An der einen oder anderen Nachbarbox hängt er etwas in den Seilen, weil der große Schimmel die Nachbartröge inspizieren möchte. „Der ist wirklich ungezogen, der Claus Dieter!“ Auf der Wiese neben dem zweiten Abreiteplatz lässt er Claus Dieter grasen. Ruhe geben, Kraft tanken, verwöhnen wie einen Freund. Gilbert Tillmann versucht Ruhe zu bewahren vor dem großen Tag. „Letztes Jahr war der Claus acht, da habe ich gesagt, ich reite mal, die Qualis und schaue mal wie es läuft. Am Sonntag bin ich ohne Erwartungen reingeritten. In diesem Jahr sind die Erwartungen viel höher“, sagt er. Am Samstagabend im Speed-Derby reitet er mit Al Paolo auf Platz zwei. Balsam für Tillmanns abergläubische Reiterseele. „Geht doch!“

Der Derbysonntag – früh am Morgen zwischen sechs und sieben setzt sich Gilbert Tillmann auf Claus Dieter. Locker machen. „Das hat Tradition“, erzählt er. „Danach versorgen wir den Claus und ich gehe mit der Pflegerin frühstücken. Auch das ist Tradition, an den anderen Tagen frühstücke ich immer mit meiner Familie.“

Noch etwas mehr als eine Stunde bis Derby-Beginn. Tillmann geht den Parcours ab. Im Jackett – wie es sich gehört – marschiert er von Hindernis zu Hindernis. Die irischen Wälle, der große Wall, der Trakehnergraben, Pulvermanns Grab, Birkenoxer, – „die Hindernisse sind einfach richtig hoch und unterschiedlich. Da springt man über den Buschoxer, der so viele Stangen hat und als nächstes über die Bahnschranken, die aus nur einer Stange bestehen. Am Wall passiert am meisten, klar, das ist das schwierigste Hindernis, aber an allen anderen können genauso Fehler passieren“, sagt er.

Einmal kneifen reicht

Noch zehn Reiter bis zu seinem Start. Gilbert Tillmann trabt Runde um Runde, hochkonzentriert, schiebt die Zunge raus. Claus Dieter wirkt konzentriert. Die ersten Sprünge, locker. Sein bester Freund Marc Schroers steht mit auf dem Abreiteplatz, baut auf. Die zwei sind ein eingespieltes Team. Seit er sieben Jahre alt ist, fährt er mit seinem Freund Gilbert schon auf die Turniere. „Gilli ist unglaublich fleißig, emotional, beflügelt, unheimlich genau und mit seinen Gedanken voll und ganz bei der Sache, gerade bei solchen Turnieren.“ Fünf Minuten vor dem Start kneife er ihn noch einmal in den Oberschenkel, macht ihn wach, „guck mich an“, fordert er ihn auf. Wenn er mit seiner Nervosität an körperliche Grenzen stoße, „dann ist er richtig gut“, verrät Schroers. Nur schade um das teure Frühstück am Morgen.

Wie schwer der Parcours am Sonntag ist, zeigen die ersten 19 Reiter. Keiner kommt ungeschoren davon. Dann reitet Gilbert Tillmann ein. Das Publikum, fachmänisch wie es in Hamburg ist, kennt ihn, feiert ihn schon beim Einritt. Wird er es schaffen? Claus Dieter ist in Topform, frisch galoppiert er über den großen Platz, dann der Wall. Kein Zögern, kein Zaudern. Er rutscht hinunter, nimmt die Planke, das Publikum atmet auf, klatscht, dann der Trakehnergraben, souverän. Gilbert Tillmann und Claus Dieter machen die Sensation perfekt. Fehlerfreie Runde, es ist die 155. in der Geschichte des 89. Deutschen Spring-Derbys.

Wall der Entscheidung. Für Claus Dieter eine sichere Sache, da geht‘s runter!

Am liebsten wäre ihm natürlich, wenn er nicht nochmal reiten müsste, gibt er im Fernsehinterview vom Pferd aus offen zu. Als er weiterreitet, sieht er seine Tochter, ruft und winkt nach oben auf die Tribüne „Hallo Schatzi“. Auf dem Abreiteplatz übergibt er Claus der Pflegerin. Am Einritt beobachtet er die weiteren Ritte. Der Brite Matthew Sampson liefert die zweite Nullrunde, also doch ein Stechen. Er wirkt ruhig. Die Situation kennt er, er hat im Stechen nichts zu verlieren.

Den Tränen nah

Drei Reiter sind am Ende im Stechen: Tillmann muss vorlegen. Er kommt gut durch, bis zum Buschoxer, Fehler. Matthew Sampson, 27 Jahre jung aus Sheffield, behält bei seiner Derby-Premiere mit Gloria van Zuuthoove, die Nerven, reitet Null. Dann Sandra Auffarth, die Weltmeisterin im Buschreiten, der die Springen in den Vielseitigkeitsprüfungen nicht mehr genug Herausforderung sind. Im Bilderbuchstil und mit schnellster Zeit lotst sie Nupafeed’s La Vista durch den Parcours, der bei ihr wie eine Springpferdeprüfung wirkt. Doch zwei Fehler passieren der Amazone dann doch. Und draußen im Einritt rastet ein junger Brite völlig aus, rennt aus dem Einritt, springt in die Luft, umarmt seine Freunde, ist außer Rand und Band, überglücklich.

Gilbert Tillmann ist Zweiter. Glückwünsche. Interviews. Pressekonferenz. Doch der sonst so emotionale Mann aus Grevenbroich wirkt jetzt nachdenklich, den Tränen nah. „Natürlich überwiegt der Stolz, dass ich dieses Jahr wieder Zweiter geworden bin“, sagt er mit gedämpfter Stimme. „Der Claus Dieter und ich, das ist sehr schön, wenn wir hier sind.“ Aber er denkt daran, wie schnell Claus Dieter 2017 den Stall verlassen hat. „Wenn ein Pferd so springt, kann man sich ja vorstellen, dass morgen oder übermorgen das Telefon klingelt und jemand ein Angebot macht, das der Besitzer nicht ablehnen kann. Er muss ja auch wirtschaftlich denken.“

Aber all das möchte Gilbert Tillmann für heute vergessen und feiern. 430 Kilometer fährt er mit dem Pferdetransport von der Elbe zurück zum Gestüt Gut Neuhaus. „Ich möchte selbst dafür sorgen, dass meine Pferde heile nach Hause kommen.“ Im Nachbarort steppt bereits bei seiner Abfahrt der Bär, Schützenfest. „Die warten auf uns“, sagt er, „vielleicht stehen nicht mehr alle, aber sie warten.“ Und das Derby wartet auf Gilbert Tillmann. Er wird wiederkommen. Das Derby ist sein Turnier, seine große Liebe. Das ist gewiss. Nur nicht die Zukunft mit Claus Dieter.