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Die Kolumne über alte Pferde

Fräulein Wunderlich und ihre Mitbewohner

Meine 30-jährige Reitponystute darf man als schrullige, alte Lady bezeichnen. Die Betonung dabei liegt auf Lady, denn sie sagt, wie es laufen muss. Besonders gut kann sie ihre Besitzer – nennen wir sie „das Fulltime-Pflegepersonal“ – einspannen.

Eine alte Lady sagt im Stall, was ihre Pfleger zu tun haben.

Münster - Man sagt Menschen nach, dass sie ab einem gewissen Alter engstirnig werden. Wenn von der Generation jenseits der 80 die Rede ist, fällt nicht selten der Satz: „Hoffentlich werden wir nicht so“. Das kann aber niemand voraussagen. Die Aussage, ob „man eben doch so geworden ist“, trifft letztendlich ein anderer. Und wer weiß, vielleicht sprechen die Mittzwanziger von heute auch eines Tages von den „guten alten Zeiten“.

Stattdessen fühlt man sich nicht selten wie ein Mitarbeiter von „Essen auf Rädern“, wenn man die einzelnen Futtereimer befüllt.

Anscheinend ist eine gewisse Wesensveränderung in reiferen Lebensjahren aber nicht nur eine menschliche Eigenschaft. Meine 30-jährige Reitponystute führt mir das immer wieder vor Augen. Sie ist zweifelsohne mittlerweile das, was man eine schrullige, alte Lady nennen darf. Die Betonung dabei liegt aber auf Lady, denn trotz einer leichten Sehschwäche auf einem Auge, hat sie noch immer den Durchblick im Stall. Besonders wenn es darum geht, ihre Besitzer – nennen wir sie der Einfachheit halber „das Fulltime-Pflegepersonal“ – für ihre Zwecke einzuspannen. Sie ist definitiv so fit, dass sie maximal Pflegestufe eins verdient hätte, sie fordert aber mindestens Pflegestufe vier. Ihre acht Jahre jüngeren Mitbewohner sind gefühlt allerdings auch schon reif für Pflegestufe zwei. Da reicht es längst nicht mehr aus, die Heunetze morgens zu befüllen, Hafer in den Trog zu schütten und die Pferde später auf die Weide zu lassen. Stattdessen fühlt man sich nicht selten wie ein Mitarbeiter von „Essen auf Rädern“, wenn man die einzelnen Futtereimer befüllt.

Kaum zu glauben, wie viele Senioren-Futtergemische es gibt. Mit viel Energie, mit wenig Energie, für hufreheanfällige Vertreter oder für diejenigen, die dringend ein paar Kilo mehr auf den Rippen ver-tragen würden. Eine Konzentrationsfrage, denn wie aus den Zeilen schon herauszulesen ist, könnte ein Vertauschen der Rationen einen Kampf um Leben und Tod nach sich ziehen. Denken Sie, ich übertreibe? Nicht, wenn Sie selbst Rentner in ihrem Pferdebestand haben.Die Crux ist aber nicht die richtige Dosierung, sondern vielmehr mit dem Futter den Geschmack der holden Herrschaften zu treffen.

„Wenn ich alt bin, werde ich nur meckern. Das wird ein Spaß.“ Wer diesen Spruch kennt, weiß was ich meine. Die Dame Anfang 30 hat ihre ganz eigene Vorstellung von einer guten Futterzusammenset-zung. Sie ist sich auch nie sicher, ob ihr das Wetter für einen mehrstündigen Weideausflug beständig genug ist. Scheint die Sonne, sind nicht selten auch Insekten unterwegs. Trotz Fliegenmaske ist der Unterstand eindeutig vorzuziehen. Bei Regen lässt sich das Ungeziefer nicht blicken, das Pferd auf der Weide aber auch nicht. Zu nass, zu kalt, mit Decke fühlt es sich zu eingeengt, ohne zu ungeschützt. Es gab schon Überlegungen einen Sonnen- zum Regenschirm umzuwandeln, damit das Tier gemütlich fressen kann. Machbar, wäre Norddeutschland nicht für seine Stürme bekannt. So bleibt es ein ewiges Hin und Her zwischen Weide und Stall. Zum Glück findet sie den Weg noch alleine. Und ein bisschen Bewegung tut ja bekanntlich auch im hohen Alter gut.

Wenn sich Fräulein Wunderlich und ihre Mitbewohner allerdings in dem Offenstall teils zu dritt in eine Box quetschen, könnte man meinen, sie treffen sich zum Kaffeeklatsch. Den Kuchen in Form von sofort gereichten Heuhaufen serviert das Fulltime-Pflegepersonal. Selbstverständlich. Dass man sich einst ein Pferd anschaffte, um darauf zu reiten, kaum noch vorstellbar. Reiten ist nämlich auch bei den rüstigen 22-Jährigen in Anbetracht des Pflegeaufwands auf der Prioritätenliste beträchtlich nach hinten gerutscht. Stattdessen wird massiert, geführt und gedehnt. „Hockergymnastik“ nennen Physiotherapeuten den Seniorensport bei Menschen. Noch gibt es keine Hocker für Pferde. Wäre aber vielleicht auf Dauer eine Marktlücke. Der demografische Wandel bei den Vierbeinern müsste dem menschlichen doch ähneln. Sinkende Geburtenrate, dafür dank des medizinischen Fortschritts immer ältere Pferde.

Die Kolumne schrieb Sarah Schnieder. Im Stall der stellvertretenden Chefredakteurin tummelt sich eine ganze Bande Pferderentner, die von Jahr zu Jahr pflegebedürftiger werden.