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Fokusthema: Stress bei Pferden

Das innere Feuerwerk

Stress hat ein schlechtes Image. Dabei ist er eine perfekte Einrichtung der Natur! Er bringt den Körper in Höchstform, ist für ein Fluchttier überlebenswichtig. Aber Stress kann das Pferd auch seelisch und körperlich krankmachen. Wie viel Stress können wir unseren Pferden zumuten?

Ein Stressmoment fürs Pferd. Schlimm? Halb so wild? Vor allem: völlig natürlich!

Die Augen hellwach, der Körper bebt, die Atmung geht schneller, der Puls rast, ein Schnauben, der Kopf hoch oben, die Ohren gespitzt, die Muskulatur fest wie ein Fels. Im Inneren des Körpers ist gerade eine Kettenreaktion in Gang gesetzt worden, ein Feuerwerk entfacht. Das Pferd hat Stress. Eine bis ins Detail ausgeklügelte Erfindung von Mutter Natur und dank des Menschen ausgestattet mit einem denkbar schlechten Ruf. Ein Missverständnis? Was ist Stress überhaupt? Was bedeutet er für unsere Pferde? Wünschen wir ihnen doch ein stressfreies Leben – wirklich?

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Stress – ein Missverständnis

„Ganz allgemein biologisch betrachtet ist Stress eine Belastungsreaktion des Körpers“, sagt Diplom-Biologin Marlitt Wendt. „Es gibt sowohl psychische als auch physische Reaktionen, die dem Pferd helfen, sich an Situationen anzupassen und seine biologische Fitness zu erhalten.“ Stress ist also ein völlig natürlicher Teil des Lebens bei Mensch und Pferd. Und die Verhaltensexpertin Prof. Dr. Margit Zeitler-Feicht warnt direkt vor einem großen Missverständnis: „Nicht jede Belastung ist negativ zu bewerten. Denn unser Organismus braucht Belastungssituationen, um im Ernstfall reaktions- und anpassungsfähig zu sein. Ein Leben ganz ohne Stress ist absolut nicht sinnvoll.“ Stress ist besser als sein Ruf. Wer sein Pferd in Watte packt, es von sämtlichen Reizen des Lebens fernhält, tut ihm keinen Gefallen. Ebenso wenig wie mit einer Reizüberflutung. Aber dazu kommen wir noch.

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Stress – eine Kettenreaktion

Um Stress zu verstehen, lohnt sich ein Blick ins Innere des Körpers, genauer in den Kopf: Im Gehirn befindet sich die sogenannte Amygdala, sie ist so etwas wie der Wachtmeister, das Angstzentrum eines Lebewesens. Sobald das Pferd einen möglicherweise bedrohlichen Reiz mit seinen Sinnen wahrnimmt, schlägt die Amygdala Alarm: Nun beginnt eine Kettenreaktion, die das Pferd auf eine Stressreaktion vorbereitet: Flucht oder Kampf. Im Bruchteil einer Sekunde werden unzählige Vorgänge aktiviert, es werden Hormone und Adrenalin ausgeschüttet, Zucker wird freigesetzt, die Lunge hat den Auftrag, mehr Sauerstoff zu produzieren, das Herz soll mehr Blut durch den Körper jagen ...

Diese Erregung des Körpers ist gut erkennbar: „Im ersten Moment wird das Pferd eventuell nur seine Atmung intensivieren und der Blutdruck wird sich steigern. Es wird seinen Kopf etwas anheben oder den Schweif leicht aufstellen“, beschreibt Marlitt Wendt. „Später dann, wenn der Stresspegel steigt, sieht man stärkere stressbedingte Reaktionen wie Schwitzen, häufiges Äppeln oder Kopfaufwerfen. Dazu kommt die typische angespannte Stressmimik mit fester Kau-, Lippen- und Nüsternmuskulatur.“

Wird jetzt das Stressrad noch weiter gedreht, kommt das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen: Das Pferd flieht oder kämpft, es läuft davon, buckelt, beißt, tritt. Das Pferd sieht rot und das ist eine völlig natürliche Stressbewältigung nach Art des Pferdes. Dadurch lässt die Spannung nach, „das Pferd kommt wieder zur Ruhe“, sagt Marlitt Wendt.

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Während der Stress noch das sympathische Nervensystem stimuliert hat, kommt jetzt bei der Entspannung der Gegenspieler zum Zuge: der Parasympathikus. Er sorgt für Ruhe und Zufriedenheit, verschiedene Hormone und Botenstoffe wie Serotonin fluten den Körper. Das Pferd findet zu seinem inneren Gleichgewicht, Körper und Kopf können sich erholen von dem vorangegangenen Stress.

Eustress vs. Distress

In freier Natur ist Stress überlebenswichtig. Stress macht ein Lebewesen flucht- oder kampfbereit. Kurzfristiger Stress ist für jedes Lebewesen gut zu verkraften. Mehr noch: Durch Stress wird ein Lebewesen gestärkt. Er ist wichtig fürs Lernen, für das Training, durch Stress entsteht eine Grundaktivität, durch ihn liefern wir Höchstleistung – das ist beim Pferd genauso wie beim Menschen. So lange es positiver Stress ist, sogenannter Eustress. Das Geräusch des Futterwagens wird das Pferd in positiven Stress versetzen, es wird sich in der Dressur in der Versammlung besonders anstrengen, wenn es gelernt hat, dass sich diese Anstrengung lohnt, weil es positiv bestärkt wird. Ein flotter Galopp durch den Wald – positiver Stress. Das Pferd ist in positiver Art und Weise angespannt, es hat ein aufmerksames Ohrenspiel, es ist aufgeregt und konzentriert, aber zeigt keine oder nur wenige Konfliktsignale, wie Schweifschlagen oder Angstmimik. „Wenn man es als Trainer richtig gut macht, löst man ein Stressereignis aus, aber kommt nicht in die Flucht- oder Kampfantwort. Weil man den kleinen nächsten Schritt nicht draufsetzt. Und damit kann man toll arbeiten“, sagt Andrea Kutsch. „Wir fordern ja nichts, was sie nicht machen können. Pferde sind dazu in der Lage, Sport zu machen. Man muss nicht fanatisch gegen Reiten sein. Wenn wir es ihnen vernünftig beibringen, machen sie es mit Freude und motiviert.“

Positiver Stress ist also der perfekte Begleiter in der Ausbildung eines Pferdes, er macht es stark. Ihm gegenüber steht der negative Stress, der Distress, er macht das Pferd schwach.

Unter Dauerstress

Was passiert, wenn der Stress nicht nachlässt? Was, wenn die Amygdala immer weiter stimuliert wird? Zehn bis 15 Minuten nach der Adrenalinausschüttung produziert der Körper vermehrt das Hormon Cortisol. Dieses schützt in erster Linie vor einer zu langen Aktivierung des Adrenalin und bewirkt eine weiter anhaltende Wachsamkeit und Leistungsbereitschaft.

Adrenalin geht in der Regel so schnell wie es gekommen ist, Cortisol hingegen kann in hoher Konzentration vom Körper nur schwer abgebaut werden und kann Schäden im gesamten Organismus verursachen oder begünstigen. Je heftiger und je länger der Stress, desto schädlicher ist er also.

Traumatische Erlebnisse oder chronischer Stress sind negativer Stress. „Er führt zu sehr vielen unterschiedlichen Krankheitsbildern, wie Verdauungsproblemen, erhöhter Infektanfälligkeit, Verhaltensproblemen, Depressionen“, sagt Marlitt Wendt und rät deshalb: „Immer wenn ein Pferd chronische gesundheitliche Probleme hat, die sich nicht so einfach in den Griff bekommen lassen, würde ich persönlich auf die Suche nach chronischem Stress im Pferdeleben gehen.“

Auch auf das Schlafverhalten wirkt sich dauerhafter Stress aus. Die Pferde stehen permanent unter Strom, „sie legen sich seltener hin, schrecken leichter aus dem Schlaf auf, schlafen weniger tief und erholsam“, sagt Verhaltensexpertin Marlitt Wendt. „Auf Dauer führt ein Schlafmangel zu gesundheitlichen Problemen.“ Es ist ein Teufelskreis.

Jedes Pferd geht anders mit Stress um. „Wie viel Stress zu viel Stress ist, hängt von seiner individuellen Bewältigungsfähigkeit ab“, sagt Margit Zeitler-Feicht. „Eine erfolgreiche Stressbewältigung hängt auch davon ab, inwieweit das jeweilige Pferd abschätzen kann, ob es wieder aus dieser Situation herauskommt. Der Stressor muss für das Pferd kalkulierbar und kontrollierbar sein.“ Es muss das Gefühl haben, dass da noch ein Hintertürchen offen ist. Ausweglose Enge ist dagegen Extremstress für das Pferd, ganz gleich, ob es die räumliche Enge oder die harte Hand des Trainers ist.

Eine (Stress-)Typfrage

Stressbewältigung kann eine Trainings- und Erfahrungssache sein, aber auch eine Frage des Rangs, des Alters, der genetischen Voraussetzung, sie ist aber auch eine Typfrage. In der Wissenschaft werden hinsichtlich der Stressbewältigung zwei Typen unterschieden: der proaktive und der reaktive Typ oder anders ausgedrückt, der aktive und passive Typ.

„Aktive Stresstypen, wie es viele Vollblüter und hochblütige Warmblüter sind, zeigen ihren Stress lebhaft nach außen. Sie scharren möglicherweise mit dem Huf, tänzeln, steigen oder wiehern verstärkt. Ein typischer aktiver oder extrovertierter Stresstyp ist der klassische Vollblutaraber, der mit hochgestelltem Kopf und als Fahne getragenem Schweif um seinen Menschen herumtänzelt“, beschreibt Marlitt Wendt ein exemplarisches Bild. Der passive oder reaktive Stresstyp ist eher introvertiert, „er bewegt sich unter Stress immer zeitlupenartiger. Er zieht sich in sein mentales Schneckenhaus zurück“. Nach außen erscheint er einem vermeintlich ruhig. Genau das wird ihm zum Verhängnis. Selbst erfahrene Pferdeleute erkennen oft nicht, wenn diese Pferde gestresst sind. Denn sie „funktionieren“ brav weiter. „Diese Pferde erscheinen auch unter größeren emotionalen Belastungen zunächst brav und gelassen, können dann aber ganz plötzlich extrem explodieren“, sagt Marlitt Wendt. Ein passiver, reaktiver Typ wird sich beispielsweise auch nicht gerne aufhalftern lassen, womöglich dreht er seinem Menschen in der Box das Hinterteil zu.

Ob proaktiv oder reaktiv, bei beiden Verhaltenstypen kommt es oft zu Missverständnissen, sie werden bestraft oder weiter überfordert und das Stressrad dreht sich unaufhörlich weiter. Deshalb pocht Margit Zeitler-Feicht so sehr darauf: „Der Reiter oder Besitzer muss das optische Ausdrucksverhalten der Pferde gut kennen. Nur dann kann er erkennen, wenn sein Pferd gestresst ist.“

Die Stress-Dosis

Und er muss wissen, was beim Pferd Stress auslösen kann. Er muss die sogenannten Stressoren kennen. Denn die Rechnung ist ja eigentlich ganz einfach: Zu viele Stressoren in der Summe verursachen beim Pferd negativen, krankmachenden Stress. Die Dosis macht das Gift.

Pferdetrainerin Andrea Kutsch ermuntert an dieser Stelle zum Perspektivwechsel: Die Dinge aus Sicht des Pferdes betrachten. Stress entsteht unter anderem, wenn das Pferd mit etwas Unbekanntem, Ungelerntem oder negativ Gelerntem konfrontiert wird. Und das ist viel mehr als uns bewusst ist. „Wir müssen erkennen, dass nahezu alles, was wir von den Pferden wollen, in ihrem instinktiven System nicht bereits angelegt ist: Ob es das Anbinden, Stehenbleiben oder in einen Anhänger gehen ist.“ Was uns Menschen selbstverständlich und gar nicht bedrohlich erscheint, könnte aus Sicht des Pferdes ein Stressor sein. Vermeintlich banale Dinge.

Haltung, Fütterung, Ausbildung, Umzug, Trennung, Transport, der Mensch – das alles und noch viel mehr sind potentielle Stressoren. Die Liste kann vielfältig und vielschichtig sein. Die Frage ist, wie viel Stress lösen sie aus? Wann und warum lösen sie Stress aus?

Margit Zeitler-Feicht beschäftigt sich seit über drei Jahrzehnten mit diesem Thema, ihr Steckenpferd ist die Haltung und das Verhalten von Pferden. Sie ist sich sicher: „Stress ist fast ausnahmslos auf Fehler in der Haltung zurückzuführen, vor allem in der nicht verhaltensgerechten Fütterung, im Management bei der Zusammenstellung der Pferde, bei der Gruppenintegration, beim Ressourcenmanagement, bei der Vorgehensweise beim Absetzen – für ein sechs Monate altes Fohlen ist das ein so einschneidendes Erlebnis – dann später der Weg in den Ausbildungsstall, die Ausbildung selbst und unser täglicher Umgang.“

Aber die Ethologin gibt auch ihre ganz persönliche Einschätzung und stellt damit eine interessante wie ermunternde Hypothese auf: „Wenn die Haltung art- und verhaltensgerecht ist, glaube ich, dass so eine Stunde Stress beim Reiten vom Pferd besser abgepuffert werden kann, als wenn das Pferd dann noch in einer Box eingesperrt wird, dreimal am Tag Kraftfutter und zweimal am Tag seine kleine Heuration bekommt.“ Es gibt durchaus Beispiele, die diese These belegen.

Dieser Artikel ist erstmals erschienen in der Reiter Revue-Ausgabe 2/2021.