Hamburg – Am Einritt vom Derbypark in Klein-Flottbek müssen die 109 Minuten für Cassandra Orschel wie in Zeitraffer vergangen sein. Als erste von vier Startern – alle mit 4 Strafpunkten im Umlauf – war die für Polen startende Hamburgerin mit Dacara E ins Stechen gegangen und dort fehlerfrei geblieben. Nun konnte sie nur noch zusehen, was die anderen machen.

Sandra Auffarth lieferte als nächste Starterin mit der Lordanos-Tochter La Vista einmal mehr eine Bildbuchrunde, aber kassierte zwei Hindernisfehler. Frederic Tillmann und der acht Jahre junge Comanche zeigten eine beachtliche Leistung, aber auch bei ihnen fiel eine Stange, vier Fehlerpunkte bedeuteten am Ende Rang zwei. „Ich hatte eigentlich mit einem anderen Pferd hier geplant, das hatte sich aber verletzt. Umso stolzer bin ich auf Comanche und auf das, was er hier geleistet hat. Er hat so viel Vermögen, hat eine super Einstellung, ist brav“, lobte Tillmann.

Der letzte im Quartett, André Thieme, ritt mit seinem 14 Jahre alten Hengst Contadur extra nochmal zum Buschoxer, an dem er im regulären Parcours einen deutlichen Fehler hatte, weil Contadur hier mit den Hinterbeinen einfädelte. „Bitte, bitte, bitte“, gab er als Stoßgebet von sich. Doch der erste Fehler passierte bereits am Tor – der zweite an der zweiten Bahnschranke. Dafür gelang der Buschoxer. „Ich weiß aber auch, dass der Paroursbauer Mitleid hatte und den Buschoxer vor dem Stechen deutlich schmaler gebaut hat“, sagte Thieme. Für Contadur sei der Buschoxer nicht von den irischen Wällen zu unterscheiden. „Es hilft also nichts und ich werde mit ihm Buschoxer üben müssen.“

Und so stand nach diesen drei Mitstreitern eine hellblonde Reiterin fassungslos mit Tränen in den Augen im Einritt des Derbyparcours: Cassandra Orschel, 29 Jahre jung und Derby-Debütanten. Bis gestern wusste sie noch nicht mal, ob sie es im Ranking überhaupt in den Derbyparcours schaffen würde. Als Nachrückerin ging sie an den Start und gewann. Erstmals nach Caroline Bradleys Sieg vor 47 Jahren bekam wieder eine Frau das Blaue Band umgehängt – vor Cassandra Orschel haben das erst vier Reiterinnen geschafft.

In der Siegerehrung schüttelte sie immer wieder ungläubig den Kopf, galoppierte dann mit ihrer Stute über den Derbyplatz, breitete die Arme aus und flog an den vollen Tribünen vorbei. Die Hamburger Zuschauer zeigten sich an diesem Wochenende so wetterfest – und nach der zweijährigen Coronapause ganz offensichtlich hungrig nach Derbymomenten. Wie der von Cassandra Orschel, die zu guter Letzt von ihrem Freund und ihren Freunden noch in das kalte Nass des Wassergrabens geworfen wurde. Aber selbst danach konnte sie noch nicht glauben, was hier eigentlich passiert ist.

Cassandra Orschel und ihre Stute Dacara E haben Derbygeschichte geschrieben. Und die Geschichte dieses Paares ist eine lange gemeinsame. Auf der Frühjahrsauktion in Elmshorn hatte Cassandra die Holsteiner Cancara-Caretino-Tochter entdeckt, sich sofort in die fünf Jahre alte Fuchsstute verliebt. Diese galt als schwierig, aber die Herausforderung nahm Cassandra Orschel an. 2016 starteten sie in Springpferdeprüfungen der Klasse A, gingen den ganzen langen Weg bis in den großen Sport zusammen, bestritten Weltcup-Springen und Große Preise – nicht immer mit dem ganz großen Erfolg, aber die ein oder andere Platzierung als Lohn für die Mühe war dabei. Zum Derby wollte die Reiterin, die früher in Wedel auf dem Moorhof, dann in Schenefeld und nun rund zehn Pferde auf der kleinen privaten Reitanlage bei Eckernförde ihres Freundes ausbildet und trainiert. Mit Dacara war sie 2019 schon mal hier in Hamburg, „da bin ich die Classic-Tour geritten und da war sie auch richtig gut.“ Hamburg liegt der Stute und seit heute liebt Hamburg die Stute und ihre Hamburger Deern, Cassandra Orschel, Derbysiegerin 2022.

Ergebnis