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Wie reagiert man richtig, wenn andere Reiter Gewalt gegen Pferde anwenden?

Zivilcourage im Reitstall

Immer wieder erreichen unsere Redaktion Schilderungen von Beobachtungen tierschutzwidriger Trainings. Unsere Experten erklären, was in Menschen vorgeht, die auf dem Pferd ausrasten und geben Tipps, wie Augenzeugen reagieren sollten.

Ein gequältes Pferd oder nur ein kurzer Anflug von Panik? Die Einschätzung muss der Beobachter genau abwägen und dann handeln.

Münster - Fälle, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden, gibt es immer wieder. Doch was in vielen Ställen und Reithallen deutschlandweit passiert, bleibt häufig ohne Konsequenzen. Fast jeder Reiter hat auf dem Turnier oder im heimischen Stall schon Szenen beobachtet, die ihm Bauchschmerzen bereitet haben. Ab wann kann man von Tierquälerei sprechen und wie reagiert man in diesem Moment richtig?

Verschiedene Leitlinien können helfen, den Umgang von Reitern mit ihren Pferden einzuordnen. Bereits 1995 wurden „Die ethischen Grundsätze des Pferdefreundes“ von der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) veröffentlicht. Darin heißt es zum Beispiel: „Der physischen wie psychischen Gesundheit des Pferdes ist unabhängig von seiner Nutzung oberste Bedeutung einzuräumen.“ Oder: „Der Mensch, der gemeinsam mit dem Pferd Sport betreibt, hat sich und das ihm anvertraute Pferd einer Ausbildung zu unterziehen. Ziel jeder Ausbildung ist die größtmögliche Harmonie zwischen Mensch und Pferd.“ Und außerdem: „Die Nutzung des Pferdes im Leistungs- sowie im allgemeinen Reit-, Fahr- und Voltigiersport muss sich an seiner Veranlagung, seinem Leistungsvermögen und seiner Leistungsbereitschaft orientieren. Die Beeinflussung des Leistungsvermögens durch medikamentöse sowie nicht pferdegerechte Einwirkung des Menschen ist abzulehnen und muss geahndet werden.“ Einen konkreten Kriterienkatalog liefern diese Grundsätze aber nicht.

Bereits vor einigen Jahren wurde eine Leitlinie für das Verhalten auf dem Abreiteplatz von der FN veröffentlicht. Ein Kriterien- und Maßnahmenkatalog für das ordnungsgemäße Verhalten von Reitern auf dem Abreiteplatz gekoppelt an Maßnahmen, die ein aufsichtführender Richter nach Bedarf durchführen soll. Darin steht zum Beispiel, dass aggressives Verhalten, unangemessene, emotionale Ausbrüche, gezielt gegen das Pferd gerichtete Einwirkung oder Anwendung von Techniken, bewusstes und deutliches Rückwärtswirken mit der Hand beziehungsweise Riegeln, grober und falscher Gebrauch der Hilfen und Hilfsmittel, Verletzung durch Sporen, Gerte, Gebiss und andere Ausrüstung sowie jegliche Gewaltanwendung nicht pferdegerecht sind und sofortigen Handlungsbedarf nach sich ziehen.

Emotionen aus der Evolution

Doch warum kommt es überhaupt zu aggressivem Verhalten? „Letztlich sind ja alle Emotionen, die wir empfinden, der Grund dafür gewesen, dass wir in der Evolution überlebt haben“, erklärt Frank Nötzel, Facharzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapeut aus Engelskirchen. „Natürlich stören uns negative Emotionen, aber sie haben ja evolutionsgeschichtlich betrachtet eine Funktion. Ärger zum Beispiel ist ein großer Motivator. Wenn ich mich zum Beispiel darüber ärgere, über meine Schuhe im Flur zu stolpern, räume ich sie dann in den Schrank. Der Ärger hat mich zum Handeln motiviert. Wut ist gesteigerter Ärger und somit ein noch größerer Motivator.“ Somit kann Wut für Sportler durchaus ein positives Ergebnis nach sich ziehen: Wenn ein Tennisspieler in einem Match zehn Doppelfehler beim Aufschlag macht, wird die Wut ihn noch mehr antreiben, Aufschläge zu üben. Wichtig ist nur, dass die Energie aus der Wut in die Konzentration auf die Aufschläge geht und nicht der Schläger auf dem Boden kaputt gehauen wird. Der Tennisspieler, der es schafft, seine Motivation richtig zu kanalisieren, wird seinen Aufschlag verbessern. Der andere hat seinen Schläger geschrottet. Für einen Reiter hieße das, Wut auf dem Pferd ist nicht das grundsätzliche Problem. Denn auch hier gilt sie als Antrieb. Aber gerade im Umgang mit dem Tier ist es noch wichtiger, sich nicht zu Ausbrüchen hinreißen zu lassen. Und hier setzt Frank Nötzel wieder an: „Der Auslöser für kopfloses Verhalten ist immer eine Not, nämlich zum Beispiel Hilflosigkeit, Unvermögen, Angst. Das ist ja sogar beim Pferd selbst nicht anders: Auch das liebste Pferd wird aggressiv, wenn es sich ausweglos in die Enge getrieben sieht. Das sieht die Evolution auch so vor: Hilflosigkeit führt zu Angst, Angst zu Aggression und diese Aggression gibt den Mut, einen Befreiungsschlag zu starten, der unter Umständen die Hilflosigkeit, also die Not, löst.“

Das sind die Zusammenhänge, die es zu verstehen gilt, wenn man begreifen möchte, warum ein kleiner Ärger zum emotionalen Totalausbruch führen kann. „Und Reiter nehmen erfahrungsgemäß viele Nöte mit in den Sattel: zu wenig Verständnis für das Pferd, wie es tickt und reagiert, reiterliche Unfähigkeit, aber auch den Alltag mit Belastungen aus Beruf, Privatleben oder existenziellen Problemen“, zählt Frank Nötzel auf, der selbst langjähriger Dressurreiter ist. Der Reiter, der auf dem Pferd ausflippt, hat also zunächst mal eine der oben genannten Nöte. Aber warum lässt er die sich potenzierende Aggression am geliebten Pferd aus. „An wem denn sonst? Es ist ja gerade das nächste in Reichweite“, gibt Nötzel zu bedenken.

Was Aggression steigert

Da stoppt auch die Pferdeliebe keinen emotionalen Ausbruch, denn letztlich sei für viele das Pferd ein Sportwerkzeug, das den eigenen Narzismus und das eigene Geltungsbedürfnis befriedige. „Aber tatsächlich ist es ja so, das die Leute, die auf dem Pferd ausrasten, hinterher ein schlechtes Gewissen haben! Und das erzeugt wieder Druck, und Druck verstärkt noch mal die Not. Es ist ein Teufelskreis!“

Auch wenn sich Außenstehende in einer aggressiven Situation einmischten, sei das meist kontraproduktiv, „denn das steigert auch wieder den Druck, also die Not und oft wird es dann noch schlimmer.“ Hier deeskalierend einzuwirken, sei tatsächlich ein schweres Unterfangen. Erschwert werde es noch dadurch, dass „je intensiver eine Emotion wird, desto stärker wird unser logisches Denkvermögen beeinträchtigt. Was auch zur Folge hat, dass ein sehr wütender Reiter in der akuten Situation meist wenig zugänglich für rationale Argumente ist.“

Und so schwer es in der Situation auch fallen wird, „es ist wichtig, verständnisvoll mit diesem Menschen umzugehen. Also ihm zu vermitteln: ‚ch kann verstehen, dass du dich darüber ärgerst, dass dies und das nicht klappt’. „Das muss ohne moralische Vorwürfe gelingen“, erklärt Nötzel. „Seien wir mal ehrlich: Jeder Reiter kennt ja diese Situation. Wer saß noch nie überfordert, hilflos oder sauer auf dem Pferd? Und da hilft es einfach nicht, von außen noch den Druck zu erhöhen.“ Um in einer akuten Situation ein bisschen „den Dampf rauszunehmen“, könne man versuchen, die Person abzulenken und Interesse zu zeigen, durch banale Fragen zum Beispiel: Worin der Reiter das Problem sehe? Was genau nicht klappe? Ob es dem Reiter denn grundsätzlich gut gehe? „Natürlich brauchen diese Leute Hilfe, aber sie lassen sich oft auch nicht einfach von jedem helfen“, schildert Nötzel die Problematik. Man müsse sich im akuten Fall damit begnügen, etwas Ruhe in den Moment zu bringen, Geduld zu vermitteln und vielleicht neue Vorbilder aufzuzeigen, um überhaupt an den Menschen heranzukommen.

Wenn das eskalierende Paar zum Beispiel einfach mal eine Pause mache, sei für den Moment schon viel erreicht. Längerfristig müsse der betroffene Reiter lernen, nicht so viel Druck aufkommen zu lassen, eigene Warnsignale zu erkennen, die eigene Hilflosigkeit zu akzeptieren und sich eben von anderen helfen zu lassen: „Letztlich entlädt sich ja meist eine Unzufriedenheit mit sich selbst. Wenn Menschen großzügig und tolerant mit sich und ihren Schwächen umgehen, gehen sie auch großzügig und tolerant mit ihren Pferden um“, fasst Frank Nötzel zusammen.

Aber er gibt neben all der psychologischen Analyse auch noch eine weitere Erklärung, die er in seiner Laufbahn als Dressurreiter schlichtweg aus der Praxis kennt: „Der Reitunterricht an sich wird ja oft auch sehr aggressiv erteilt. Da wird gebrüllt und geschrien und nicht selten erhalten die Reitschüler die Anweisung, dem Pferd zuzusetzen.“ Und was kann man als Reiter dagegen tun, wenn man selbst beim Reiten spürt, dass die Wut in einem hochkocht? „Die beste Methode, sich auf dem Pferd immer im Griff zu haben, ist eine große Selbstsicherheit zu entwickeln und sich davon zu befreien, irgendjemandem irgendetwas beweisen zu müssen. Einfach mal Pause machen. Wenn man einen stressigen Tag hatte, sollte man nicht noch ein schwieriges Programm mit dem Pferd absolvieren, dann tut es vielleicht eher die entspannte Schrittrunde im Gelände. Der Faktor Zeit ist da maßgeblich! Will man konzentriert trainieren, muss man auch die Ruhe und Zeit dazu haben.“

Die allerletzte Instanz

Helfen jedoch alle Bemühungen nicht, den Reitkameraden zur Vernunft zu bringen, kann man sich an das zuständige Veterinäramt wenden, aber auch direkt an die Polizei. Man kann auch auf direktem Wege bei der Staatsanwaltschaft Strafanzeige stellen. Wichtig: Hierfür müssen Fotos, Videos oder weitere Zeugenaussagen vorliegen. Derjenige der anzeigt, hat nämlich die Beweispflicht. Grundlagen für eine Anzeige wären Beweise für grundloses Misshandeln von Pferden, aggressive Reitweisen, Wunden, Exerzieren von Strafen, wie zum Beispiel gezieltes gegen die Bande reiten. Die rechtlichen Konsequenzen können von Geldbußen und Strafverurteilung bis hin zum Tierhalterverbot gehen.