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Die Spezialsprechstunde in Lüsche im Test

Für die Leser der Reiter Revue hat Redakteurin Sylvia Sánchez die Spezialsprechstunde an der Tierklinik in Lüsche getestet. Sie und ihr Pferd wurden vermessen, behandelt und beraten. Was dabei herauskam und wie die Sprechstunde abgeschnitten hat, erfahren Sie hier.

Wie symmetrisch ist diese Reiter-Pferd-Einheit? Das war eine der zentralen Fragen bei der Spezialsprechstunde in Lüsche.

Eine Überraschung ist es nicht, dass Handicaps des Reiters sich auf den Bewegungsablauf des Pferdes übertragen. Gerade, wenn Reiter-Pferd-Paare schon länger gemeinsam unterwegs sind, kompensiert das Pferd oft Schiefen, Blockaden und Unbeweglichkeiten des Reiters. Wie genau die Zusammenhänge sind, möchte eine Spezial-Sprechstunde klären, die an der Tierklinik Lüsche angeboten wird. Wir haben diese Sprechstunde besucht. Wer mehr über die Ansätze und Tipps von Bianca Kaiser erfahren möchte, kann dies beim Reiter Revue-Seminar "Physioreiter" am 19. und 20. September. Hier erfahren Sie, wie der Reiterkörper für einen guten Sitz arbeiten muss und wie Schwach- und Knackpunkte behoben werden können - nämlich ganz einfach mit Übungen, die fast immer und überall leicht und einfach gemacht werden können. Hier geht's zum Seminar!

Die Spezial-Sprechstunde beginnt mit einem Vet-Check.

Vorgespräch und Vortraben

Der Termin beginnt mit einem Vet-Check des Pferdes und einem Gespräch mit dem Reiter, bei dem sich Dr. Nadine Blum und Bianca Kaiser ein Bild von dem Paar machen. Welche Vorerkrankungen liegen vor, gab es Operationen oder hatten wir Unfälle? Hatte das Pferd bereits mit Lahmheiten zu tun oder der Reiter mit Beschwerden im Bewegungsapparat? Aber auch andere Krankheitsbilder werden abgeklopft, zum Beispiel Stoffwechselerkrankungen. Welche Probleme gibt es im Training?Wichtig sind natürlich auch alle Arten von Unfällen, auch wenn sie im ersten Moment nicht als gravierend betrachtet wurden. Aber: „Ich bekomme durch den Hergang Informationen, wo und in welcher Richtung Kräfte gewirkt haben. Was mir wiederum Aufschluss auf mögliche geschädigte Strukturen gibt“, erklärt Bianca Kaiser. Das leuchtet noch ein, aber was haben Störungen zum Beispiel des Stoffwechsels mit dem Bewegungsapparat zu tun? Nehmen wir das Beispiel Schilddrüse: „Zum einen hat sie die anatomische Lage an der Halswirbelsäule. Jedes Organ, das nicht ganz rund läuft, hat Auswirkungen auf die umliegenden Bereiche. Wenn die Schilddrüse also zum Beispiel entzündet ist, sind auch die Aufhängungen verklebt und das Organ bewegt sich nicht frei mit, was wiederum die Bewegungsfreiheit – in diesem Fall der Halswirbelsäule – einschränken kann.“ Eine Schilddrüsenunterfunktion kann aber auch Muskelschwäche oder -steifheit und Schmerzen im gesamten Körper hervorrufen. Solche Informationen sind sehr wichtig, um den richtigen Behandlungsansatz zu finden.

Das Pferd wird mit Sensoren versehen, die sich mit Kameras in der Halle verbinden.

Das Pferd wird vermessen

Die Tierklinik Lüsche arbeitet mit dem Qualisys Motion Capture System. Hinter Qualisys steckt ein schwedisches Unternehmen, das zunächst Bewegungsanalysen im Humanbereich durchführte, und zwar mit Topsportlern. Die Verfahren, die die Symmetrie von Bewegungsabläufen messen und auswerten, wurden auf das Pferd übertragen und entsprechend modifiziert. „Natürlich kann ein erfahrener Tierarzt schon viel sehen, wenn er ein Pferd vorgeführt bekommt. Aber manchmal ist das auch trügerisch“, erklärt Dr. Nadine Blum. „Qualisys kann kleinste Unregelmäßigkeiten entlarven, die wir mit bloßem Auge nicht sehen, also auch nicht als Lahmheit oder Schmerz- ursprung erkennen.“

Für die Vermessung wird Pony-Mix-Wallach Pelé mit sieben optischen Markern versehen. Sogenannte „High Speed Motion Capture Cameras“, die in der Halle aufgehängt sind, erfassen ganz genau den Bewegungsablauf von Pelé. Er wird dabei an der Hand auf gerader Linie und dann an der Longe – also auf gebogener Linie – vorgeführt, sowohl auf der linken als auch auf der rechten Hand. Die eigentliche Vermessung erfolgt im Trab. Je nach Bedarf können die Sensoren noch erweitert werden. Für den Test reicht uns die Basisvermessung. Übrigens sind weitere Vermessungsmodelle in Arbeit, „bestenfalls sogar mit Reiter“, stellt Blum in Aussicht.

Das Vorreiten

Ich werde mit gelben Kreuzchen auf den Schulterblättern markiert. Dann geht es in den Sattel. Das Vorreiten beschränkt sich auf Linien, die Blum und Kaiser vorgeben. Gerade auf die beiden zu, von ihnen weg. Einige Zirkel, in erster Linie im ausgesessenen Trab. Dann bekomme ich zwei Watterollen zwischen die Backenzähne, nicht besonders angenehm, aber laut Bianca Kaiser offenbart dieser sogenannte Meerssemann-Test, wo ein Knackpunkt liegt. „Hierbei werden Watterollen an eine bestimmte Position zwischen die Zähne gesteckt und somit das Kiefergelenk sozusagen ausgeschaltet“, beschreibt Kaiser. „Wenn dann der Reiter tiefer und besser sitzt, ist es eine weitere Bestätigung, dass es ein Problem im Kiefergelenk gibt.“ In unserem Fall war es tatsächlich so, dass Balance und Anlehnung sofort besser wurden, als ich mit den Watterollen zwischen den Zähnen ritt. „Pferde verpetzen solche Sachen sofort“, lacht Bianca Kaiser. „Wenn der Reiter besser sitzt und mitschwingt, werden die Bewegungen des Pferdes leichter, die Anlehnung wird besser und so weiter.“

Das Pad unter dem Po war eine sehr wackelige Erfahrung.

Bis hierhin ist alles ganz entspannt. Dann bekomme ich ein dickes Pad zwischen Sattel und Gesäß. Das fühlt sich gar nicht gut an, ich fühle mich völlig haltlos und verwackelt. Auch Pelé wirkt unsicher und spannt sich an. „Dieses Pad ist ein sehr gutes Hilfsmittel, um gewisse Schwachstellen noch deutlicher zu machen und später zum Training geeignet“, erklärt Bianca Kaiser. „Wenn ein Reiter einen schlechten Beckenboden hat, kommt dies noch mehr zum Vorschein, wenn ich ihn auf dieses Pad setzte.“ Aber vor allem zeigt dieser Test auf, was passiert, wenn der Sitzkontakt zwischen Reiter und Pferd verändert wird: „Sie und Pelé haben sich in Kompensation der gemeinsamen Schwächen zusammengefunden. ‚Stört‘ man dieses ‚System‘, zeigen sich die zugrundeliegenden Probleme noch deutlicher“, so Dr. Blum.

An dieser Stelle trennen sich in der Spezial-Sprechstunde nun die Wege von Pferd und Reiter. Das Pferd geht mit Dr. Nadine Blum zur chiropraktischen Behandlung, der Reiter mit Bianca Kaiser zur Physiotherapie.

Das Fazit der Experten

„Die Priorität liegt bei der Reiterin zunächst im Kiefergelenksbereich", erklärt Bianca Kaiser. "Hier sind einige Bewegungseinschränkungen und Dysbalancen vorhanden, die weiterführend den Sitz behindern. Was zur Folge haben kann, dass mehr Probleme im Kiefergelenksbereich, unruhige Beine, feste Hand und dergleichen entstehen“, so Kaiser weiter. Damit sich die funktionelle Kette zwischen Becken und Kiefergelenk wieder stabilisiert, sei es außerdem wichtig, die Brustwirbelsäule zu mobilisieren und die Beckenbodenmuskulatur aufzutrainieren. „Denn nur wenn diese Kette wieder in Beweglichkeit, Muskelkraft, Koordination bedient werden kann, entsteht langfristig ein unabhängiger und besserer Sitz.“

Ein fester Kiefer schmerzt und verhindert einen geschmeidigen Sitz.

Dr. Nadine Blum hat noch eine weitere klare Botschaft: „Die Reiterin wirkt rechts mit deutlich mehr Zügelkraft auf ihr Pferd ein. Die Schiefe des Pferdes kann eine Reaktion auf diese vermehrte Krafteinwirkung sein. Allerdings ist auch denkbar, dass die Reiterin auf die vorherige Schiefe im Genick des Pferdes mit mehr Kraft reagiert“, erklärt sie. Ein bisschen die Frage, was zuerst da war: die Henne oder das Ei – dies lässt sich anhand des Untersuchungstermins nicht eindeutig nachvollziehen.

Reiter und Pferd beeinflussen sich gegenseitig. Es wird aber kein Schema F geben, welche Ketten von Pferd und Reiter was, wie und wo beeinflussen, stellt Bianca Kaiser noch klar: „Pferde gehen auf vier Beinen und Reiter nur auf zweien. Somit hat das Pferd alleine schon viel mehr Möglichkeiten, Schwächen auszugleichen. Zudem kommt es auf jedes Individuum an. Denn bei jedem Pferd und Reiter sind noch weiter Parameter vorhanden. Körpergröße, Unfälle, Gewicht, Vorlieben und so weiter.“

Fazit der Reiterin

Der Termin in der Tierklinik Lüsche hat mir zwar kein weltbewegend überraschendes Ergebnis geliefert, denn dass sich Reiter und Pferd in ihren Bewegungsabläufen bedingen, ist nur logisch. Das Ganze aber mal ganz konkret zu untersuchen, war extrem spannend und sehr aufschlussreich. Dass mein Pferd gelöster und balancierter geht, wenn ich durch Watteröllchen dazu überlistet werde, meinen Kiefer zu entspannen, war eine beeindruckende Erfahrung.

Die – zum Teil anfangs zugegebenermaßen äußerst schmerzhaften – Übungen für den Kiefer habe ich weiter fortgeführt und in meinen Alltag integriert. Die Anschaffung eines neuen Sattels war schon vor dem Termin in Lüsche in Angriff genommen und wurde inzwischen umgesetzt. Beides hat meinen Sitz deutlich geschmeidiger gemacht – und somit auch die Beweglichkeit des Pferdes verbessert.

Den Hinweis, dass mein rechter Zügel vermehrt einwirkt – in meiner Wahrnehmung war dem nicht so – habe ich bewusst verfolgt und vermehrt an korrekter Stellung und Biegung bei regelmäßigem Überstreichen am inneren Zügel gearbeitet. Inzwischen habe ich das Gefühl, ein balancierteres und weniger schiefes Pferd unter mir zu haben und auch selbst weniger in der linken Taille einzuknicken, somit gleichmäßiger zu sitzen.

In den Wochen nach unserem Termin, der bereits Anfang März war, hat Pelé an Muskulatur und Kraft zugelegt und ich habe an Geschmeidigkeit gewonnen.

Mir hat der Termin bewusst gemacht, dass es für die Pferdegesundheit wichtig ist, dass auch ich gesund bin. Und dass meine Schwächen sich immer wieder negativ aufs Pferd auswirken, also das Pferd schwächen.

Zugegeben, die Spezial-Sprechstunde ist mit zusammengerechnet rund 500 Euro kein Schnäppchen, aber man bekommt auch ein umfangreiches Paket geschnürt. Letztlich offenbart die Sprechstunde Schwächen, die man vielleicht vage erahnte und macht sie ganz konkret. Diese zu erkennen und zu bearbeiten, ist aktives Gesundheitsmanagement – von Pferd und Reiter.

Infos zu Spezial-Sprechstunde finden Sie hier.

Die Experten:

Dr. Nadine Blum und Bianca Kaiser Sie bilden das Duo, das seit August 2019 die sogenannte Spezial-Sprechstunde an der Tierklinik in Lüsche für Reiter anbieten. Hier werden die Pferde von Dr. Nadine Blum in ihrem Gangbild vermessen und chiropraktisch behandelt. Die Reiter werden von Physiotherapeutin Bianca Kaiser sowohl am Boden als auch im Sattel genau beobachtet, untersucht und ebenfalls physiotherapeutisch behandelt.

Das Testpaar:

Pelé ist ein zehnjähriger Reitpony-Mix-Wallach, kam als Zweieinhalbjähriger zu Redakteurin Sylvia Sánchez.