Zum Inhalt springen

Drücken Sie Öffnen / Eingabe / Enter / Return um die Suche zu starten

Röntgen-Leitfaden 2018

Das Ende der Röntgenklassen

Seit 2018 gilt ein neuer Röntgen-Leitfaden. Ein Meilenstein! Denn mit ihm wurden die Röntgenklassen abgeschafft. Jahrelang sorgten sie für Zündstoff beim Pferdekauf. Und jetzt? Ist die Neuerung der richtige Weg?

Tierärzte sollen Röntgenbilder nach dem neuen Leitfaden detailliert beschreiben, aber nicht "benoten".

Es waren einmal drei Professoren, die hatten einen Auftrag: Sie sollten ein Standardwerk für Röntgen-Untersuchungen im Rahmen des Pferdekaufs entwickeln. Es war die Entstehungsgeschichte des Röntgenleitfadens und der Röntgenklassen. Eine Hilfe für Tierärzte bei der technischen Umsetzung und Beurteilung von Röntgenbildern, eine Orientierung, eine Vereinfachung – denn der Pferdekauf war auch damals, Anfang der 90er Jahre, ein heißes Eisen. Befunde wurden also fortan in Klassen eingeteilt, nach dem aktuellen Leitfaden 2007 sind es sieben an der Zahl (siehe Kasten S. 26). Doch ausgerechnet das Schulnoten-System begann zu hinken. Pferde wurden teilweise zu Unrecht „platt“ geschrieben – manchmal hat ein Millimeter aus einem Idealpferd einen Risikofall gemacht–, gestritten hat man weiterhin, Befunde wurden unterschiedlich interpretiert, der Laie dachte nur noch in Klassen, das Pferd als Ganzes verschwand im Röntgen-Nebel. Doch damit soll jetzt Schluss sein.

Die Risiko-Frage

Seit dem 1. Januar 2018 gilt der Röntgen-Leitfaden (RoeLf) 2018 und der krempelt einiges um.

➤ Keine Klassen mehr: Viele Befunde erwiesen sich als nicht eindeutig, es fehlte an wissenschaftlichen Belegen für ein Gesundheitsrisiko. „Diese prognoseähnlichen Aussagen waren nicht mehr zu halten“, sagt Prof. Dr. Christoph Lischer, Mitglied der Röntgenkommission.

➤ Befunde statt sieben Klassen: „Risiko bekannt“ oder „Risiko unbekannt“ – das ist jetzt die Frage. Unter „Risiko bekannt“ fallen „deutliche Veränderung bei denen wissenschaftliche Untersuchungen gezeigt haben, dass ein Risiko besteht, dass Pferde in nicht definierter Zeit wegen diesem Befund lahm werden können“, erklärt Lischer. Beispiel: eine Zyste nahe eines Gelenks oder eine Arthrose am Sprunggelenk.

Alle anderen Befunde, die von der anatomischen Norm abweichen, aber das Lahmheitsrisiko wegen fehlender wissenschaftlicher Untersuchungen nicht bekannt ist, werden dokumentiert. Das können Zeichen einer Abnutzung sein, deutliche knöcherne Veränderungen, zum Teil auch kleinere Chips in Gelenken. Lischer: „Bei den Gelenkchips haben wir eine Abstufung vorgenommen. Sie werden je nach Größe, Lage und Knochenstruktur unterschiedlich beurteilt. Etwa ein großer oder zweigeteilter Chip mit einer heterogenen Knochenstruktur ist ein Risikozustand.“

Aufnahmen, die den Idealzustand oder funktionell unbedeutende Varianzen zeigen, bekommen ein „o. b. B.“ (ohne besonderen Befund).

➤ 18 statt bisher zwölf Röntgenbilder: Es geht mehr ins Detail. Prof. Lischer: „Wenn man Hufgelenk und Fesselgelenk wie bisher auf einer Aufnahme hat, kann man entweder das Fesselgelenk gut beurteilen oder das Hufgelenk, beides geht nicht. Weil der Strahlengang das Bild zum Teil verzerrt. Deshalb machen wir hier zwei Aufnahmen, Huf seitlich und Fesselgelenk seitlich.“ Nur so liefert das Röntgengerät reelle Aussagen. Auch vom Knie gibt es künftig zwei Aufnahmen.

➤ Rückenbilder raus: Aufnahmen vom Rücken kann der Kunde weiterhin erbeten, zum Standard des Röntgen-Leitfadens gehören sie nicht mehr. „Weil es ein Ding der Unmöglichkeit ist, sich anhand der Dornfortsätze ein Urteil zu bilden, was deren Beschaffenheit für eine klinische Relevanz hat. Es gibt zu viele Arbeiten, die belegen, dass man nichts sagen kann“, sagt Lischer.

➤ Winkelmessungen raus: Es geht um Fehlstellungen der Gliedmaßen. Diese röntgenologisch festzuhalten und mit Winkelmessungen zu belegen, hat zu Fehlern geführt. Deshalb wurden sie ersatzlos gestrichen. Stellt der Tierarzt bei der klinischen Untersuchung eine Fehlstellung einer Gliedmaße fest, muss er sie nur im Kaufuntersuchungsprotokoll auflisten.

➤ Gesamturteile: Für das Strahlbein und die straffen Sprunggelenke werden alle Befunde zusammengefasst. Einzelbefunde des Strahlbeines haben das Pferd in der Vergangenheit oft zu Unrecht in eine schlechte Klasse gesteckt. Jetzt soll der Tierarzt beurteilen, ob das Strahlbein als ganzes als Risikozustand bezeichnet werden muss. „Das ist für den Tierarzt eine größere He-rausforderung und er braucht dafür viel Erfahrung. Aber medizinisch gesehen, wird das der Beurteilung des Strahlbeines gerechter“, sagt Lischer.

Alles schwarz und weiß?

Viele Punkte des neuen Röntgenleitfadens erscheinen sinnvoll. Aber der Blick aufs Detail zeigt, es gibt Diskussionsbedarf. Dr. Mark Kaminski aus Bochum bedauert beispielsweise, dass der Pferderücken aus dem Leitfaden genommen wurde: „Wir wissen zwar heute, dass leichte Befunde an den Dornfortsätzen in aller Regel keine klinische Relevanz haben. Die Rückenbilder komplett rauszunehmen, ist aber meiner Meinung nach nicht richtig. Denn es gibt auch am Rücken Befunde, die von vornherein den Einsatz als Sportpferd zumindest reduzieren, beispielsweise eine Serienfraktur oder tiefste Verkalkungen.“

Die Umsetzung in die Praxis werde eine Herausforderung für die Tierärzte, sagt Kaminski. Denn der Kunde, insbesondere wenn es der potenzielle Käufer ist, werde sich nicht mit einer Schwarz-Weiß-Einteilung, also „Risiko bekannt“ und „Risiko unbekannt“, zufrieden geben. Die Röntgenklassen gaben Orientierung. Die war ursprünglich nur für den Tierarzt gedacht. Doch auch der tiermedizinische Laie hat sich gerne an der Klassifizierung aufgehalten. Jetzt bekommt er statt Noten eine Dokumentation. Das war’s. „Sobald ich einen Befund aufzeige und sage, da ist ein kleiner Chip, möchte der Auftraggeber diesen Befund interpretiert haben“, sagt Kaminski und hat dafür auch größtes Verständnis. Die Crux ist, dass er laut dem neuen Röntgenleitfaden in solch einem Fall eigentlich gar nichts sagen soll. Keine Interpretation. Keine Prognose. Der Kunde steht mit seinem Unwissen im Regen. „Ob es sinnvoll war, bis zum letzten alles zu interpretieren, ist fraglich. Es gibt nicht zu allen Befunden eine validierte Aussage“, sagt Kaminski.

„Trotzdem muss man eine Aussage treffen können. Es ist auch unsere Aufgabe, dem Kunden eine Idee an die Hand zu geben und über ein gewisses Risiko aufzuklären.“

Mark Kaminski ist ein erfahrener Fachtierarzt, jeden zweiten Tag macht er mindestens eine Kaufuntersuchung. Für ihn steht fest, dass nichts zu sagen für ihn nicht in Frage komme. Dafür sieht er sich zu sehr als Dienstleister. Doch weniger erfahrene Kollegen werden sich überlegen, ob sie genauer über den Befund aufklären. Am Ende steht der Kunde da und muss sich überlegen, was er mit der fachmedizinischen Dokumentation über sein Wunschpferd anfangen soll. Was tun, wenn das Risiko unbekannt ist? Bei welchem Befund sollte er nachhaken?

„Ich kann mir vorstellen, dass es für die Käufer vom Verständnis her erst mal schwieriger ist“, gibt Prof. Christoph Lischer zu. „Denn die sind davon ausgegangen, man macht einen ‚TÜV’ und auf diesen ‚TÜV’ gibt’s eine Note. Und am besten wäre eine 1 oder 2, über alles was drüber ist könnte man sich schon Sorgen machen. Aber da wurde von Käuferseite aus ein Instrument missbraucht, um den Preis zu drücken, ohne dass dafür effektiv eine klinische Relevanz bestand.“ Tatsächlich steckte hier viel Dramatik. Und die Röntgenklasse II-III war für viele bereits ein Grund, das Traumpferd doch nicht zu kaufen. Dabei war beispielsweise die Klasse 3 immer noch „Akzeptanzzustand“. Aber Klasse 3 bekam von den Käufern die Note 5.

Die klinische Untersuchung soll wieder an Bedeutung gewinnen, wünschen sich die Verantwortlichen des neuen Röntgenleitfadens..

Lischer wünscht sich ein Umdenken. „Ich glaube, diese Interpretation der Röntgenuntersuchung wurde in der Vergangenheit überbewertet. Dabei sollte auf der klinischen Kaufuntersuchung der Schwerpunkt liegen. Die Röntgenuntersuchung ist eine Zusatzuntersuchung, die man machen kann oder nicht und die unter Umständen zusätzliches Wissen gibt, wenn man einen Risikobefund erkennt. Aber in vielen Fällen wird sie nur bestätigen, dass es keine klinisch relevanten Röntgenbefunde am Skelett gibt.“

Zwischen Himmel und Hölle

Als der Jurist und Experte für Pferderecht, Walter Horn, den neuen Röntgenleitfaden las, war er mehr als überrascht.

„Für Käufer ist das der Himmel“, sagt er, „für Tierärzte die Hölle!“

Denn während sich Tierärzte mit dem neuen Leitfaden in Sicherheit wiegen, weil sie vermuten, ohne Röntgenklassen weniger Angriffsfläche zu bieten, sieht der Jurist genau hier die Falle. „Die Haftung der Tierärzte wächst nahezu ins Unermessliche“, ist Walter Horn sicher. Warum das? Wegen der detaillierten, schriftlichen Dokumentation. Zuvor konnte der Tierarzt mit den Röntgenklassen eine Einschätzung abgeben und wenn der Kunde dazu Fragen hatte, konnte er etwas dazu sagen oder schreiben. „Jetzt muss auf das Risiko konkret hingewiesen werden, wenn man es sieht“, sagt Horn. „Es wird mit medizinischen Fachausdrücken um sich geschmissen und dann steht da: Risiko oder kein Risiko. Schreibt der Tierarzt ein Risiko zu viel, kriegt er Ärger mit dem Verkäufer.“ Denn der kann das Pferd nie wieder „risikofrei“ verkaufen. Stellt sich aber heraus, es gab gar kein Risiko wird er den Tierarzt haftbar machen. Und andersherum: Schreibt der Tierarzt ein Risiko zu wenig ins Protokoll und es stellt sich heraus, es gab beim Übergang doch ein Risiko, steht wieder der Tierarzt in der Haftbarkeit.

„Die Problematik sehe ich gar nicht mal bei den größeren Kliniken, eher beim Landtierarzt“, meint Walter Horn. „Aber genau diesen mir vertrauten Haustierarzt hole ich mir doch, wenn ich auf dem Land mein M-Springpferd verkaufen oder kaufen möchte – da fahre ich doch nicht nach Hannover“, sagt Horn. Er rät deshalb zu Individualvereinbarungen mit dem Zusatz, dass es sich um ein Lebewesen handle. „Der Tierarzt kann sich damit etwas aus der Haftung befreien. Aber er muss Kaufuntersuchungen ab jetzt gut vorbereiten.“

Der Käufer sei aus juristischer Sicht auf der sicheren Seite, denn mit dem neuen Röntgenleitfaden bekomme er zwar keine Prognose, aber eine detaillierte schriftliche Dokumentation. Und wie sieht es künftig für den Verkäufer aus? „Der steht aus rechtlicher Sicht nicht schlecht da“, meint Horn. „Der ehrliche Verkäufer wird sagen, ‚bitte, ich habe diese Untersuchung machen lassen, da wurde nichts entdeckt, damit bin ich nicht wegen arglistiger Täuschung in Haftung.’ Die rote Karte kriegt hier mal wieder der Tierarzt.“

Die Praxis wird zeigen, wie sich der neue Röntgen-Leitfaden in Zukunft bewährt. Es gibt noch einige offene Fragen. Wie reagiert der Markt? Wie reagieren die Versicherungen auf den neuen Leitfaden? Nach welchen Anhaltspunkten, wenn nicht an den Röntgenklassen, werden sie künftig entscheiden, ob und wie sie ein Pferd versichern oder nicht? Wie handeln jetzt die Zuchtverbände? Auch sie haben sich bisher am Röntgenleitfaden orientiert.

Klar ist, mit dem alten Röntgenleitfaden gab es viel Zündstoff. Die Röntgenkommission hat die Reißleine gezogen. Veränderungen kosten Mut, sie werfen neue Diskussionen auf – aber sie sind auch immer eine Chance für eine Verbesserung. Mal sehen, ob der neue eine bessere Note bekommt als der alte.

Die Geschichte des Röntgenleitfadens

1991 gründet der „Ausschuss Pferd“ der Deutschen Tierärzteschaft die erste Röntgenkommission, mit dabei Prof. Dr. Kees Jan Dik, Prof. Dr. Bodo Hertsch, Prof. Dr. Gottlieb Ueltschi. Mit dem 1993 veröffentlichten „Röntgenprotokoll“ ist der erste Schritt mit dem Ziel einer Standardisierung der Kaufuntersuchung getan. Inhalt: Empfehlungen der Technik, Befundbeschreibung und -beurteilung sowie eine Einteilung der Röntgenbefunde in Klassen.

Im Jahre 2002 bringt die zweite Röntgenkommission eine überarbeitete Version dieses Protokolls heraus, ab jetzt ist offiziell vom „Röntgenleitfaden“ die Rede. Befunde werden verfeinert, teilweise neu klassifiziert.

Eine dritte Röntgenkommis-sion erarbeitet den Röntgenleitfaden 2007, der bis Ende diesen Jahres noch gültig bleibt. Die noch aktuelle Einteilung der Klassen: Röntgen-klasse I ist der „Idealzustand“. Der Röntgenklasse II („Normzustand“) werden Befunde zugeordnet, die leicht vom Idealzustand abweichen, mit einer geschätzten Häufigkeit von 3% könnten diese Befunde zu klinischen Erscheinungen führen. Die Röntgenklasse III („Akzeptanzzustand“) umfasst Befunde, die von der Norm abweichen, klinische Erscheinungen in unbestimmter Zeit werden mit einer Häufigkeit von 5 bis 20 % geschätzt. In die Klasse IV („Risikozustand“) werden Befunde eingeordnet, die deutlich von der Norm abweichen, die klinische Relevanz liegt bei über 50 %. In den Zwischenklassen I-II, II-III und III-IV werden Befunde eingeteilt, die unterschiedlich bewertet werden können.

Seit 2018 gilt der neue Röntgenleitfaden, erstmals ohne Röntgenklassen. Zukunft offen.

Zukunftsmusik Röntgen-App

Die Zukunft gehört dem Smartphone. Das betrifft auch das Thema Röntgen. Die Röntgenkommission entwickelt aktuell eine App, die spätestens Mitte 2018 für Tierärzte auf den Markt kommen soll und bei einer Kaufuntersuchung zum Zuge kommen könnte. Die App bietet dem Veterinär Röntgenbilder zum Vergleich sowie die entsprechenden Empfehlungen der Röntgenkommission. Die App soll dynamisch genutzt werden. „Wenn wir merken, es gibt eine neue Veränderung, die wir beschreiben müssen, kann diese laufend in die App eingearbeitet werden. Andersherum können wir irreführende Abbildungen entfernen“, beschreibt Prof. Christoph Lischer das Hilfsmittel der Zukunft, hinter dem die Gesellschaft für Pferdemedizin (GMP) steckt.