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Frage aus dem Reiterleben

Warum spiegeln unsere Pferde uns so unerbittlich?

Diese Frage stellte sich Redaktionsleiterin Sarah Schnieder. Sie hat bei sich und ihren Pferden ebenso ähnliche Charakterzüge beobachtet, wie bei Pferd-Reiter-Paaren in ihrem Umfeld. Zufall? Oder spiegeln unsere Pferde unser Wesen tatsächlich ziemlich genau?

Selbstreflexion ist eine wichtige Eigenschaft des Reiters. Verständnis für das Verhalten des Pferdes aufbringen, gelingt jedoch nicht immer.

An dieser Stelle beschäftigen wir uns mit Themen, die uns Reiter bewegen. Manche Fragen stellen wir uns bewusst, andere durchkreuzen hin und wieder unsere Gedanken, bleiben aber oft unbeantwortet. Wir sprechen sie an.

„Das Pferd ist dein Spiegel. Es schmeichelt dir nie. Es spiegelt dein Temperament. Es spiegelt auch deine Schwankungen. Ärgere dich nie über ein Pferd. Du könntest dich ebenso gut über deinen Spiegel ärgern.“ Der deutsche Schriftsteller und Reiter Rudolf G. Binding wusste es schon Anfang des 19. Jahrhunderts. Pferde spiegeln uns Menschen unerbittlich. Was er eigentlich sagen wollte, war, dass wir mehr Verständnis für das Verhalten unserer Pferde aufbringen sollen. Doch das gelingt nun mal nicht immer. Eine zutiefst menschliche Eigenschaft.

Wer ärgert sich nicht gelegentlich auch über sein Spiegelbild? Über die Haare, die nicht richtig liegen wollen? Über Mund, Nase, Zähne? Jeder hat doch seine ganz persönlichen Baustellen. Allerdings geht im Falle des Spiegels namens Pferd weniger um die Oberflächlichkeiten. Wie häufig stellen Sie sich vor den Spiegel, lächeln sich an und sagen sich: „Heute ist ein guter Tag und was ich mir vornehme, gelingt?” Kaum? Eben. Ungefähr so negativ eingestellt steigen wir auch häufig in den Sattel. Wer ernst dreinblickt, ist meistens so angespannt, wie es sein Gesicht verrät. Wer, wenn nicht das Pferd, sollte darauf entsprechend reagieren? Gar nicht schlecht, der vierbeinige Spiegel.

Dieser Artikel ist erschienen in Reiter Revue 9/2020. Die September-Ausgabe mit dem Fokusthema "Vertrauen zwischen Reiter und Pferd" und vielen weiteren spannenden Artikeln rund um Ausbildung, Gesundheit, Pflege und Fütterung Ihres Pferdes können Sie hier versandkostenfrei bestellen.

Manchmal könnte der Blick hinein aber auch eine Aufforderung zur Selbstreflexion sein! Denn wenn wir mal analysieren, wie wir unsere Hilfen interpretieren würden, würden wir sie verstehen? Manchmal „reden“ wir in unserer Zeichensprache mit dem Pferd vielleicht so ähnlich wie ein Politiker in einer Wahlkampfrede. Viel, aber ohne konkrete Aussage. „Bring' es doch auf den Punkt“, fordert mein Pferd vielleicht ganz einfach, wenn es sich verwirft, die Parade zum Halten nicht durchkommt oder es die treibende Hilfe nicht annimmt.

Aber unsere Launen und Sprachfehler sind nicht der einzige Spiegel, den unsere Pferde uns vorhalten. „Wie der Herr, so’s Gescherr“, ist noch so ein altgebräuchlicher Spruch. Stimmt das wirklich? Sind unsere Pferde ihren Reitern im Wesen ähnlich? Spiegeln Sie uns? Ich besitze drei Pferde. Und wenn ich sie vergleiche, sind sie alle drei eher von der sensiblen Sorte: schnell schreckhaft, eifrig, eher hitzig. Ist das Zufall? Sagt das etwas über meine Auswahl aus? Oder haben sich meine Pferde meinem Charakter im Laufe der Zeit angepasst? Durchaus bin auch ich ein eher schreckhafter, schnell hektischer Mensch. Doch wenn ich das Wesen des Pferdes betrachte, ist verständlich, warum es sich als Fluchttier, das grundsätzlich immer in Alarmbereitschaft ist, diesen Eigenschaften anpasst. Die sportpsychologische Expertin Dr. Inga Wolframm hat vor einiger Zeit das Buch „Dreamteam Pferd und Reiter“ veröffentlicht, in dem es auch um eine perfekte Abstimmung von Reiter- und Pferdepersönlichkeiten geht. Ein Match, wie es in der Tinder-Sprache heißen würde. Ob es das braucht? Womöglich ja, sonst würden wir uns nicht auf dem einen Pferderücken wohl und auf dem anderen unwohl fühlen. Als Spiegel unserer eigenen Persönlichkeit formen wir unsere Pferde aber erst in der Dauer unseres Zusammenseins. Genau wie sie uns.

Denn so erbarmungslos dieser Spiegel erscheint, können wir ihn aber genau deshalb auch als wunderbaren Lotsen unserer Persönlichkeit verstehen. Nicht selten stellen Reiter fest, dass sie im Laufe ihres Reiterlebens geduldiger werden. Und es als Herausforderung verstehen, sich selbst so zu formen, dass ihr Spiegelbild dem entspricht, was sie sich unter ihrem Traumpferd vorstellen. Mit seinen Angewohnheiten und Macken, die sie auch in einem echten Spiegel sehen – und auf Dauer dann doch lieben lernen.