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Diskussion: Muss das Genick der höchste Punkt sein?

Genick höchster Punkt, Nase vor der Senkrechten – so zeigt es ein korrekt in der Anlehnung gerittenes Pferd. Zu sehen gibt es das allerdings selbst in den höchsten Klassen nur in vereinzelten Momentaufnahmen. Reine Theorie, falsches Reiten oder eine Anforderung, die nicht mehr zum modernen Sportpferd passt?

Das Genick als höchster Punkt: Können moderne Sportpferde dieser klassischen Anforderung überhaupt noch gerecht werden?

Eine Studie beweist es: Auf zwei Dressur-Championaten wurden die Starter in den Grand Prix-Prüfungen immer bei der gleichen Lektion gefilmt. Über 50 Prozent der Pferde zeigten sich dabei nicht in der von den Richtlinien gewünschten Haltung: Genick höchster Punkt, Nase vor der Senkrechten! Doch was sind die Gründe?

Im Zuge der fortwährenden Rollkur-Diskussion lässt gerade dieser Punkt ein hohes Maß an Sensibilität erwarten. Weniger beim kritischen Zuschauer, als vielmehr bei Reitern und Richtern. Oder ist das Exterieur des modernen Sportpferdes mit dieser klassischen Anforderung aus früheren Zeiten nicht mehr kompatibel? Immerhin gab und gibt es immer mal wieder Rufe aus Reiterkreisen, die Reitlehre zu überarbeiten und davon abzusehen, das Genick als höchsten Punkt vorzuschreiben.

„Die Anatomie des Pferdes hat sich nicht verändert, die Grundgangarten auch nicht. Es gibt also keinen Grund, das Genick als höchsten Punkt infrage zu stellen.“ Beatrix Schulte Wien

„Es steigt mir die Zornesröte ins Gesicht, wenn manche Reiter davon reden, dass die klassischen Anforderungen der Reitlehre verändert werden müssten“, sagt Grand Prix-Richter Christoph Hess dazu entsetzt. Und auch die Pferde-Osteotherapeutin Beatrix Schulte Wien kann nur mit dem Kopf schütteln: „Die Anatomie der Pferde hat sich nicht verändert, die Grundgangarten auch nicht. Passage und Piaffe sind grundsätzlich auch so geblieben, also gibt es keinen Grund, das Genick als höchsten Punkt infrage zu stellen.“

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Wenn man aber Bilder von Ritten internationaler Reiter vergleicht, gibt es kaum eines, auf dem ein Geodreieck zeigen würde, dass das Genick tatsächlich der höchste Punkt das Pferdes ist. Bedeutet dies, dass tatsächlich fast alle Reiter die Anforderung ignorieren? Nein. Vielmehr liegt die Crux darin, dass ein Geodreieck an einem Pferd nur für Verwirrungen anstatt für Klarheit sorgt. Denn die Reiterei ist ein dynamischer Prozess. „In der Nickbewegung des Pferdes ist das Genick nicht dauerhaft der höchste Punkt“, gibt Dressur-Ausbilderin Heike Kemmer zu bedenken.

Für die Piaffe von Isabell Werth und Bella Rose hagelte es bei der EM in Rotterdam Zehnen. Auch wenn das Genick der Stute strenggenommen nicht der höchste Punkt ist.

Und über die Dauer eines Prüfungsrittes bleibt ein Pferd auch nicht immer stetig in einer Haltung. Schnell kippt es kurzzeitig mal im Genick ab. „Dann muss die Note aber schlechter werden“, vertritt Beatrix Schulte Wien vehement ihren Standpunkt. Dr. Dietrich Plewa, Dressurrichter der höchsten Kategorie und bis hin zu Weltreiterspielen im Einsatz, relativiert: „Je nach korrekter Einwirkung des Reiters ist die Lektion nicht automatisch fehlerhaft, wenn das Genick nicht durchgehend höchster Punkt ist.“ Das Gesamtbild sei entscheidend. „Wir Richter schauen in jeder Lektion, ob das Pferd in seinem Bewegungsfluss vor den treibenden Hilfen des Reiters ist und sich das Gebiss sucht“, pflichtet Christoph Hess bei.

Reelles Reiten reicht

Die perfekte Haltung aus dem Lehrbuch ist ein Richtwert, den jeder Reiter immer im Kopf haben sollte. Das Genick als höchster Punkt ist aber nicht das einzige Kriterium, das gutes Reiten ausmacht. „Grundsätzlich sind Pferde Individuen und nicht jeder Körperbau gleicht dem Idealbild. Es gibt zum Beispiel überbaute Pferde oder Pferde mit einem sehr langen oder sehr tief angesetzten Hals, denen es anatomisch schwerer fällt, diese Idealhaltung zu erreichen“, erklärt Profireiterin Stella Charlott Roth. „Die Aufgabe des Reiters ist es, die Pferde reell zu dieser Haltung zu trainieren und nicht mit Tricks wie einer hohen Hand zu manipulieren.“ Bei einigen Pferden dauert dieser Weg dann eben etwas länger. Dies betont auch Christoph Hess: „Manche Reiter nehmen sich in der Grundausbildung des Pferdes nicht die Zeit, zu erarbeiten, dass es reell ans Gebiss herantritt. Doch wenn man am Anfang Grundlagen überspringt, zeigt sich das bis in den Grand Prix.“

Versammlung am höchsten Punkt

Damsey FRH öffnet seinen Ganaschenwinkel unter Helen Langehanenberg. Die Stirn-Nasenlinie ist deutlich vor der Senkrechten, das Genick rein optisch dennoch nicht der höchste Punkt. Bei Hengsten kann eine massive Oberlinie diesen Eindruck erzeugen.

„Das Genick als höchster Punkt ist das Ergebnis der Selbsthaltung und der horizontalen und vertikalen Balance des Pferdes unter dem Reiter“, beschreibt Dr. Dietrich Plewa. „Daraus resultiert die relative Aufrichtung, also die Aufrichtung, die nicht von der Reiterhand herbeigeführt wird.“ Je nach Versammlungsgrad ist das Pferd mehr und weniger aufgerichtet. In den Verstärkungen beispielsweise ist Rahmenerweiterung gefordert. Der Hals wird länger, die Nasen-Stirn-Linie bleibt vor der Senkrechten, das Genick wird automatisch etwas tiefer genommen. In der korrekten Haltung bleibt es aber höchster Punkt. In der Piaffe ist das Pferd hingegen vermehrt aufgerichtet. „Durch die Muskulatur kann es gerade bei Hengsten mit einer massiven Oberlinie so aussehen, als wenn das Genick nicht der höchste Punkt ist“, erklärt Beatrix Schulte Wien. Vom Skelett her muss aber das Genick der höchste Punkt sein, weil ansonsten die gesamte Rückenwölbung des Pferdes nicht korrekt ist.

„Das Genick als höchster Punkt ist das Ergebnis der Selbsthaltung und der horizontalen und vertikalen Balance des Pferdes unter dem Reiter. Daraus resultiert die relative Aufrichtung, also die Aufrichtung, die nicht von der Reiterhand herbeigeführt wird.“ Dr. Dietrich Plewa

Heute zu eng, früher zu hoch

Und genau da setzt die Diskussion wieder an: Sind die modernen Sportpferde grundsätzlich nicht mehr in der Lage, die Idealvorstellung vom Genick als höchstem Punkt zu erfüllen? Doch, sagen die Experten. Allerdings seien die Pferde heutzutage sehr weich im Genick. „Sie sind deutlich beweglicher als früher“, erklärt Heike Kemmer. „Früher war der Genick- und Ganaschenbereich fester.“ Ein Grund, warum es heute häufiger passiert, dass die Pferde mit der Stirnlinie hinter die Senkrechte geraten. Aber keine Entschuldigung dafür, wenn dies von Reitern absichtlich durch die rückwärtswirkende Hand herbeigeführt wird. Genau das gilt es also zu unterscheiden!

Anlehnung auf einen Blick

Über dem Zügel: Die Nasenlinie ist vor der Senkrechten. Klingt positiv, ist es in diesem Fall aber nicht, denn ein Pferd, das über dem Zügel oder auch gegen den Zügel geht, entzieht sich der Anlehnung. Es drückt den Rücken weg und tritt nicht mit der Hinterhand unter den Schwerpunkt.

Am Zügel: Im Idealfall läuft das Pferd im völligen Gleichgewicht, tritt mit dem Hinterbein unter seinen Schwerpunkt, wölbt den Rücken auf, trägt Hals und Kopf in Selbsthaltung und sucht das Gebiss als sanfte Anlehnung. Die Stirn-Nasen-Linie ist etwas vor der Senkrechten. Je nach Versammlungsgrad nimmt das Pferd mehr Last auf der Hinterhand auf und richtet sich mit Vorderhand, Hals und Genick auf. Es wird buchstäblich vorne größer und die Kruppe senkt sich. Wichtig ist, dass der Ganaschenwinkel offen und die Verbindung zwischen Reiterhand und Pferdemaul leicht ist.

Hinter dem Zügel: Entweder zieht die rückwärtswirkende Hand des Reiters den Pferdekopf hinter die Senkrechte oder das Pferd tritt generell nicht vertrauensvoll ans Gebiss heran und verkriecht sich hinter dem Zügel. In beiden Fällen wird der Rücken des Pferdes blockiert, der Reiter kommt nicht zum Mitschwingen und sitzt gegen die Bewegung. Das Pferd wird in seinem Bewegungsfluss blockiert, was die Rückentätigkeit und damit die Tragkraft beeinträchtigt. Das Pferd kann seinen Hals nicht als Balancierstange nutzen und wird in seinem Gleichgewicht beeinträchtigt.

Früher war alles besser, weil die Pferde mit der Stirnlinie durchgehend vor der Senkrechten gingen. So wird es oft behauptet. Allerdings hat dies nicht nur damit zu tun, dass die Pferde vor 50 oder 60 Jahren fester in der Ganasche waren. „Wenn man sich Bewegtbilder von damals anschaut, fällt auf, dass die Pferde nicht so durch den Körper gearbeitet wurden wie heute“, erklärt Christoph Hess. „Man hat zwar deutlich extremer darauf geachtet, dass das Pferd mit der Stirnlinie vor der Senkrechten ist, allerdings gingen viele Pferde nicht über den Rücken.“ Dies bestätigt auch Heike Kemmer: „Auch in den 80er Jahren gingen die Pferde noch häufig nicht am sondern über dem Zügel und drückten den Rücken weg.“ Der Grat ist schmal, denn wie man sieht, können Genick und Stirnlinie keinen endgültigen Schluss zulassen, ob ein Pferd reell geritten ist.

Wichtige weitere Kriterien sind die Rückentätigkeit und das schon angesprochene horizontale und vertikale Gleichgewicht. „Teilweise sehe ich Grand Prix-Reiter, die vor der Traversale durch die Ecke fegen wie Motorradfahrer“, berichtet Osteotherapeutin Beatrix Schulte Wien. „Die Pferde müssen aber in sich gerade sein, um sich unter dem Reiter ausbalancieren zu können. Wer aus der Perspektive von vorne eine vertikale Linie vom Brustbein des Pferdes bis zum Reiter und eine horizontale von Schulter zu Schulter des Pferdes ziehen kann, hat einen Anhaltspunkt, dass das Pferd in sich ausbalanciert ist.“ Das gilt auch in der Traversale.

Selbsthaltung für Springpferde

Und auch für Springpferde! „Für sie ist der Hals, besonders kurz vor, nach und während des Sprungs, noch mehr Balancierstange als für ein weit ausgebildetes Dressurpferd in der Grand Prix-Prüfung“, sagt Stella Charlott Roth, die selbst Springen bis zur Klasse S geritten ist. Obwohl die Springreiter ebenfalls nach der klassischen Reitlehre trainieren, beschäftigen sie sich scheinbar deutlich weniger mit der korrekten Halshaltung. „Im täglichen Training achte ich auch bei den Springpferden darauf, an der Selbsthaltung zu arbeiten“, betont Roth. „Das ist wichtig, damit sie sich vor allem auch durch die Wendungen genügend tragen können und ausbalanciert auf dem Hinterbein bleiben.“

Ein geöffneter Ganaschenwinkel ist die Voraussetzung dafür, dass die Stirnlinie vor die Senkrechte kommen kann. Das wiederum ist die Grundlage, um überhaupt vom Genick als höchstem Punkt sprechen zu können.

Elementar wichtig empfinden alle Experten, ganz gleich ob in Dressur oder Springen, dass die Reiter auf einen offenen Ganaschenwinkel achten, also jenen Ansatz zwischen Ganasche und Hals. „Das ist ein wichtiges Merkmal für eine korrekte Anlehnung“, sagt Christoph Hess. Denn ein geöffneter Ganaschenwinkel ist die Voraussetzung dafür, dass die Stirnlinie vor die Senkrechte kommen kann. Das wiederum ist die Grundlage, um überhaupt vom Genick als höchstem Punkt sprechen zu können.

„Wenn man die Bilder von früher betrachtet, etwa aus den 50er oder 60er Jahren, fällt auf, dass die Pferde nicht so durch den Körper gearbeitet wurden wie heute. Dafür wurde früher mehr darauf geachtet, dass sie den Hals als Balancierstange nutzen konnten.“ Christoph Hess

Es klingt so logisch, wird aber in der Praxis nicht überall umgesetzt. „Wenn das Pferd hinter dem Zügel geht, gibt es massiven Punktabzug“, betont Dr. Dietrich Plewa. Die einzige Chance, um manche Reiter zum Umdenken zu bewegen. Allerdings bleibt gerade deshalb am Ende eine Frage unbeantwortet – und die muss an dieser Stelle gestattet sein: Warum bekommen manche Paare teils Bestnoten in der Piaffe, obwohl die Pferde beinahe dauerhaft die Stirnlinie deutlich hinter der Senkrechten haben? Mit solchen Bewertungen wird dem Wunsch mancher Reiter nach einer Überarbeitung der Richtlinien dann doch still und heimlich Folge geleistet.

erschienen in Reiter Revue International 09/2015