Zum Inhalt springen

Drücken Sie Öffnen / Eingabe / Enter / Return um die Suche zu starten

Besser reiten - ohne Reiten?

Immer mehr Reiter entdecken Neuroathletik für sich. Die Übungen sind gar nicht kompliziert, der Effekt dafür umso beeindruckender. Marc Nölke, der Gründer von Neuro-Rider, gibt übrigens ein spannendes Seminar in Kooperation mit der Reiter Revue. Was Neuro-Rider ist und kann - wir haben es uns für Sie angeguckt!

Wir waren Anfang 2020 beim Personal Training von Finja Bormann mit Marc Nölke dabei. Es war einfach faszinierend!

Wirklich jeder Reiter kennt dieses Problem: Er weiß genau, wo der Fehler liegt, aber kann ihn nicht abstellen. Er will seine Absätze tief halten, aber immer wieder verliert der Reiter die Kontrolle über seine Füße. Oder er weiß eigentlich ganz genau, in welchem Moment er die Wechselhilfe geben soll, aber verpasst ihn dennoch immer wieder. Oder er klemmt mit dem Schenkel, weil es ihm einfach nicht gelingen will, loszulassen und sich auszubalancieren. Die Hände wandern immer wieder nach oben, der Kopf wird immer wieder schief gehalten, die Schultern hochgezogen. Die Liste lässt sich endlos fortführen.

Sie möchten mehr über Neuroathletik für Reiter wissen? Und erste, hochwirksame Übungen kennenlernen? Dann sollten Sie dabei sein: Am 13., 20. und 27. September bei unserem dreiteiligen Online-Workshop "Neuroathletik für Reiter" mit Marc Nölke. Hier geht's zur Anmeldung.

Die gute Nachricht: Das ist ein Dilemma, in dem fast jeder Sportler irgendwann steckt, selbst auf Weltklasse-Niveau kommen die allermeisten an einen Punkt, an dem sie sich nicht mehr weiterentwickeln oder ihre Leistung nicht konstant abrufen können. Insbesondere nach Verletzungspausen kommt ein Knick, man kann nicht mehr an frühere Leistungen anknüpfen und weiß nicht genau, warum. Aber man kann daran arbeiten – und zwar sehr effizient.

Vor den "Drills" der Neuroathletik verlor Finja Bormann die Kontrolle über ihren Schenkel.

Die Erklärung für die oben beschriebene sportliche Sackgasse gibt Marc Nölke. Der frühere Skispringer verweist dabei auf die Verknüpfung zwischen Nervensystem, allem voran natürlich dem Gehirn, und dem Bewegungsapparat. Genau hier setzt das Neuro-Rider-Training an. Es klingt fast ein bisschen nach Magie: Besser reiten, ohne zu reiten? Das Reiten bleibt natürlich nicht außen vor, es dient bei diesem Training allerdings dem Test und Re-Test. Und es ist tatsächlich so, dass Übungen am Boden verbessern, was der Reiter im Sattel fühlt und tut.

Nach den Drills liegt der Schenkel deutlich besser und der gesamte Sitz ist mehr in der Bewegung mit dem Pferd.

Der Kern der Neuroathletik ist schnell zusammengefasst: Das Nervensystem steuert jede Bewegung, die der Körper macht. Klingt logisch und folgt einem einfachen Prinzip. Das Gehirn erhält Informationen. Diese werden verarbeitet und interpretiert. Anschließend sendet es Befehle aus, zum Beispiel für bestimmte Bewegungen oder die Ausschüttung der benötigten Hormone. Für den Sportler – auch den Reiter – und das Training sind vor allem die Infos im Zusammenhang mit Bewegung wichtig und somit für das Neuroathletiktraining relevant: das Sehen, also das visuelle System, das Gleichgewicht, also das vestibuläre System, das das Gehirn darüber informiert, in welcher Position sich der Körper im Raum befindet. Sowie das propriozeptive System. Letzteres lässt sich umgangssprachlich am besten als Tastsinn übersetzen, birgt aber viel mehr, denn über das Fühlen von Temperatur oder Widerstand hinaus, wirken die Propriorezeptoren außerdem noch bei der Koordination der Muskelarbeit mit und nehmen zum Beispiel auch blitzschnelle, reflexartige Bewegungen wahr. Diese sind gerade für Reiter sehr wichtig, denn: „Reiten ist zu 90 Prozent für den Reiter reflektorisch. Das bedeutet, der Reiter steuert nicht bewusst, wie er sitzt und mitschwingt. Die Muskulatur stabilisiert reflexhaft. Diese reflektorische Aktivierung passiert übrigens für jede Seite des Körpers getrennt“, erklärt Marc Nölke.

Die sogenannten Drills wirken etwas skurril, haben aber eine beeindruckende Wirkung!

Diese drei Systeme – visuelles, vestibuläres und propriozeptives – arbeiten sehr eng miteinander zusammen. Und davon, wie gut sie zusammenarbeiten und dem Gehirn Informationen liefern, hängt ganz grundsätzlich ab, wie sicher sich ein Körper im Raum und in der Bewegung fühlt. Eine gute Funktion dieser drei Systeme ist Voraussetzung für die Leistungsfähigkeit eines Körpers. Bekommt das Gehirn präzise Informationen aus den Systemen und bewertet die Situation somit als „sicher“, dann ist es bereit, mehr Raumgriff oder Reichweite, mehr Kraft oder Energie zu geben, ohne den Muskeltonus überdurchschnittlich zu erhöhen. Dadurch wird die Bewegung vor allem eines: präziser und effizienter. Umgekehrt: Nimmt das Gehirn „Gefahr“ wahr, weil Informationen ungenau sind, zum Beispiel nach Verletzung, dauerhaft einseitigem Gebrauch oder Traumata, passiert genau das Gegenteil: Die Reichweite ist kleiner, es ist weniger Energie in der Bewegung, gleichzeitig aber steigt der Muskeltonus über das gesunde Maß hinaus, also die Muskulatur verkrampft sich.

Je besser und klarer also der Input durch die Nervensysteme an das Gehirn ist, desto (selbst-)sicherer fühlt sich das Gehirn und umso leistungsbereiter wird der Körper. Übrigens überträgt sich das auch sofort in mentale Kraft. Denn fühlt sich der Körper gut, sicher, kraftvoll, in Balance, also stabil an, wachsen auch Zuversicht und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.

Neuro-Rider – Neuroathletik für Reiter

Daraus resultiert aber auch, dass das reine Training des Körpers zwangsläufig an seine Grenzen stößt, denn hat das Nervensystem zum Beispiel einen Bewegungsablauf falsch gelernt oder ist durch ein Trauma, wie eine Gehirnerschütterung, die Verbindung zwischen den Rezeptoren, dem Gehirn und Körper, in irgendeiner Weise beeinträchtigt, reicht es nicht immer, den Körper weiter wie gewohnt zu trainieren. Durch ein normales Training kann die Aktivierungsschwelle unteraktiver Neuronen/Teilbereiche im Gehirn oft nicht erreicht werden. Dann muss das Training genau diese im Gehirn und deren Umgebung gezielter aktivieren. Erst dann können Bewegungsabläufe oder Gleichgewichtsdefizite dauerhaft ausgemerzt werden und die Leistung des Sportlers wird besser. Ansonsten passieren dieselben Fehler immer und immer wieder.

Es geht in der Neuroathletik darum, Schwachstellen im Nervensystem zu erkennen und sie wieder zu stärken. Dazu gibt es auf der einen Seite fast unzählige Möglichkeiten, aber die folgen immer einem Anwendungsprinzip: Eine Bewegung testen, eine Neuroathletikübung – einen so genannten Drill – praktizieren, und wieder die Eingangsbewegung testen, der so genannte Re-Test.

Finja Bormann beim Training mit Marc Nölke - das geht von Kopf...

Ein Training mit Finja Bormann

Finja Bormann war der Shooting-Star der Saison 2019. Mit ihrem A Crazy Son Of Lavina, der im Stall Lavino gerufen wird, bildet sie ein eingespieltes Team. Der Wallach wurde auf dem heimischen Hof der Familie Bormann geboren. Anfangs galt er nicht als besonders talentiert, aber „irgendwie sind wir gemeinsam gewachsen und inzwischen sind wir bis auf Fünf-Sterne-Niveau platziert“. Der bisher schönste Erfolg war sicher der Sieg im Großen Preis von Nörten-Hardenberg, Finja Bormanns Heimturnier. Trotzdem möchte die Springreiterin weiter an sich arbeiten: „Mein Unterschenkel fliegt über dem Sprung und vor allem in der Landung zu weit nach hinten.“ Aber warum ist ihr das so wichtig, auf dem Niveau, auf dem sie reitet, gibt es doch schon lange keine Noten mehr für Stil: „Nein, aber ich habe dadurch das Gefühl, ich verliere das Pferd über dem Sprung und in der Landung bin ich nicht schnell genug wieder am Pferd dran.“ Und das kann dann in den hochtechnischen Parcours durchaus entscheidend sein. Wir haben ihr Training mit Marc Nölke begleitet:

Erster Schritt

Finja reitet bei dem Termin mit Marc Nölke ein Nachwuchspferd. Sie macht nur einzelne Sprünge. In diesem ersten Schritt – dem Test – beobachtet Marc Nölke den Bewegungsablauf von Finja über dem Sprung. Warum Finjas Schenkel nicht stabil bleibt, kann Nölke nicht sagen: „Das kann viele Ursachen haben. Um die herauszufinden, haben wir genügend Tests.“

Zweiter Schritt

Der zweite Schritt gleicht einer Anamnese. Marc Nölke fragt ab, welche Verletzungen, Stürze, Brüche, Gehirnerschütterungen, Verstauchungen Finja Bormann bisher hatte. Und Tatsächlich gab es einen Sturz vom Pferd, bei dem Finja kurz bewusstlos am Boden liegen blieb und eine Gehirnerschütterung diagnostiziert wurde, und zwar im Frühjahr 2019. Um ihren Bewegungsablauf über dem Sprung und insbesondere ihre Schenkellage zu verbessern, hat Finja Bormann einen Trainingstermin mit Neuro-Rider-Coach Marc Nölke. Das meiste Training fand allerdings auf der Stallgasse statt.

Dritter Schritt

Im dritten Schritt werden verschiedene Tests gemacht, welche die Fähigkeiten der drei relevanten Systeme – visuelles, vestibuläres und propriozeptives – abklopfen. „Ich fange in diesem Fall mit Neuro-Leistungstests des Gleichgewichtssystems und visuellen Systems an“, erklärt Nölke.

Dazu gehört unter anderem auch ein üblicher Sehtest, bei dem Finja immer kleiner werdende Buchstaben von einem Blatt ablesen soll: „Bei alten Gehirnerschütterungen kann es immer sein, dass Augenbewegungen beeinträchtigt sind“, erläutert Nölke, und weiter: „Augenbewegungen bieten ein schönes ‚Fenster‘, durch das man Gehirnfunktionen beobachten kann. Wir haben die Trainingseinheit deshalb mit einigen Basistests des visuellen Systems begonnen.“ Dabei fällt ihm auf, dass Finja durchaus Probleme mit den Augen und dem Gleichgewichtssinn hat: „Finja präsentierte leicht fehlerhafte vestibulär-okulare Reflexe. Dieser Reflex hält unsere Augen stabil auf einem Ziel, während wir den Kopf bewegen“, kommentierte Marc Nölke.

Diese Funktion ist für Finja Bormann im Parcours, insbesondere bei höherem Tempo, aber enorm wichtig, denn dort ist das Ziel der nächste Sprung, den sie – selbst in Bewegung – schnell fixieren muss.

... bis Fuß!

Vierter Schritt

Im vierten Schritt werden die Defizite, die sich aus den verschiedenen Tests ergeben haben, durch Impulse bearbeitet. Die können ganz unterschiedlich sein – entweder Übungen mit den Augen oder durch einen speziellen Kopfhörer oder sogar beides gleichzeitig oder gehen sogar von Kopf bis Fuß.

Fünfter Schritt

Der fünfte Schritt ist der so genannte Re-Test auf dem Pferd. Finja Bormann steigt wieder auf, trabt und galoppiert ein paar Runden und reitet ein paar Mal über den Sprung – und tatsächlich: Der Schenkel liegt zwar nicht wie festgebunden am Gurt, aber wesentlich ruhiger und Finjas Bewegungsablauf im Sattel ist viel mehr eins mit den Abläufen des Pferdes. Sie ist deutlich mehr in der Bewegung – ebenso ihr Schenkel. Ihr Reiten wirkt stabiler, balancierter, harmonischer und irgendwie hellwach. Der nächste Sprung könnte sofort kommen, so vereint, konzentriert und dynamisch sind die beiden unterwegs. „Viel besser“, ist auch Finjas Gefühl. „Ich hatte schon beim Aufsteigen ein ganz anderes Gefühl im Sattel, eine bessere Balance und mehr Kontakt zum Pferd. Und das konnte ich gut über den Sprung mitnehmen.“

Auf dem Pferd werden einige Übungen nochmal wiederholt: „Und zwar die wirkungsvollsten, bevor es wieder über den Sprung geht“, erläutert Marc Nölke. Mit einem Metronom im Smartphone gibt er die Schnelligkeit der Kopfbewegungen vor. Auch hier gelingt es Finja, immer schneller in ihren Bewegungen zu werden, und dennoch das Ziel mit ihrem Blick scharf zu erfassen.